Friedrich Ebert im Spiegel unserer Epoche

01-03-2025

1.930 Worte

Seit 2023 laufen in der Aufa100 Planungen, zu den neuesten Entwicklungen der Weimar/Russia debate einen Beitrag zu leisten. In diese dreißigjährige Debatte schaltete sich der niederländische Autor eingangs als frisch graduierter Historiker ein. Anlässlich des hundertsten Todestages Friedrich Eberts wurde in seiner transnationalen Kommission, einer außeruniversitären Gründung vom März 2020, eine Teilstudie erstellt. Diese Zentenariumstudie wird in den geplanten Sammelband zur Markierung des fünften Jahrestages einfließen.

Am 11. Februar 1919 trat Friedrich Ebert für die Sozialdemokratische Partei Deutschlands das neu geschaffene Amt des Reichspräsidenten an. In Paris wurde der Waffenstillstand vom 11. November 1918 um das dritte und letzte Mal verlängert. Deutschland befand sich im Würgegriff revolutionärer Wellen, durch welche die innere Stabilität so weit untergruben wurde, dass der Sitz des Parlamentes und der Regierung ins thüringische Weimar verlegt wurde. Zum Zeitpunkt der Verlängerung wurde Deutschlands Kolonialreich von den Alliierten und die Vereinigten Staaten zergliedert und aufgelöst. Im Vertragsentwurf vom Mai 1919 wurden die Deutschen, die auf die ersten dreieinhalb Monate von der Konferenz ausgeschlossen wurden, mit dem Beschluss dieser weißen Entkolonialisierung konfrontiert. Berechtigt sprach der Leiter ihrer Delegation von einer weitreichenden Verletzung des Waffenstillstandsabkommens.(1) Im Gegensatz zu Österreich, dem die Alliierten Mächte diesmal ohne die Beteiligung einer US-amerikanischen Delegation einen separaten Friedensvertrag auferlegten, wurde das Deutsche Reich insgesamt von der Nachkriegsordnung ausgeschlossen. Alsbald durften die österreichische Republik einer entsprechend exklusiven Völkerbundorganisation beitreten.

Am 28. Februar 1925 starb das erste Staatsoberhaupt des post-monarchistischen Reiches nach sechs ereignisreichen Jahren im Amt. Ebert hielt den diktierten Vertrag von Versailles für „unerfüllbar, unerträglich und unannehmbar.“(2) Weder seine Person, insgesamt in Zusammenarbeit mit einem halben Dutzend Reichskanzler, noch die Vertragsautoren und Schutzmächte vermochten das Diktat zu revidieren bzw. seine zutiefst stringenten Bedingungen wesentlich abzumildern. Dahingegen wird Ebert für seine Verdienste auch heute noch Lob gezollt.(3) In dieser Studie werden personelle Gegebenheiten der Staatsführung im Zustand eines verlorenen und zerstörten Gleichgewichtes zwischen Ost und West unter die Lupe genommen. Ausgehend von der ersten Nachkriegsordnung, 1919-1933, wird versucht, einen Vergleich mit ähnlichen Entwicklungen ab 1991 aufzuzeigen. In der postsowjetischen Nachkriegsordnung hatten politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Unsicherheiten, welche sich durch außenpolitischen Entwicklungen stark vermehrten, maßgebliche Auswirkungen auf die Entwicklung eines ebenfalls ausgeschlossenen Landes. Der Bedeutung nach blieb die neu formierte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, welche 1994 aus der gleichnamigen Konferenz von 1975 hervorging, als einzig inklusive Organisation mehr und mehr hinter die US-geführten, jeweils exklusiven Bündnisse und dergleichen Organisationen zurück. 1991 wurde die Russländische Föderation als Nachfolgestaat der aufgelösten Union der sozialistischen Sowjetstaaten gegründet.

Von Anfang an erkannten die meisten Teilhaber der Weimar/Russia debate im neuen Russland einen Nachfolger der diktierten, strukturell unterlegenen Weimarer Republik. Im verunsicherten Land zwischen dem Pazifik und der Ostsee bzw. Schwarzem Meer herrschten in vielerlei Hinsicht Weimarer Verhältnisse. Nach der Auffassung vermochte es kein Russe, zu verhindern, dass seine Nation in die Rolle der Weimarer Republik schlüpfte.(4) In der Debatte wurde zunächst Russlands politische Entwicklung vor dem Hintergrund schwacher staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen analysiert. 1997 leisteten die US-amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaftler Hanson und Kopstein (1997) im Duo unter anderem mit einer Übersicht der Argumente pro und contra die Vergleichsstudie einen maßgeblichen Beitrag.(5)

Dahingegen argumentierten andere, dass die geschwächte Großmacht, abgesehen von Weimarer Verhältnissen im eigenen Haus, alsbald in diese Rolle gedrängt wurde. Im Vergleich zum Stand von 1990 änderte sich des Westens Umgang mit dem Russland des entmachteten Michael Gorbatschows gegen Mitte der neunziger Jahre in großem Stil. Die Russland ignorierende Osterweiterung der Atlantischen Allianz unter der Führung der USA kam einem Bruch mit mehreren Abkommen zur Beendigung des Kalten Krieges gleich.(6) Die Ignoranz der Charta von Paris für ein neues Europa sowie ähnlicher Abkommen dehnte sich auf alle der eben gerade genannten Organisationen aus. Hanson und Kopstein gehörten nicht zu denjenigen, die beide Seiten der Medaille betrachteten. Die andere Seite wäre, dass der machtpolitisch überlegenen Westen zielgerecht Politiken, die unausweichlich auf ein dauerhaftes Ausgrenzen und Isolieren des allseitig transformierendes Gegenübers hinauslaufen würden, in Gang setzte.

Da sich Hanson und Kopstein im neunten Jahr des Stellvertreterkrieges um die Ukraine mit einem Evaluationsbericht zurückmeldeten, dient deren spannendes Gesamtwerk neben dem dieses Autors als Diskussionsgrundlage.

Im Rahmen der Debatte war unausweichlich, mit derselben Gewissenhaftigkeit die Differenzen beider Nachkriegsordnungen zu analysieren. Umso mehr sich diese nachweislich anhäuften, desto stärker stand die Antithese, aus der zwangsläufig eine Entwarnung zum Weimar-Russland-Theorem hervorging. Politisch läge es im Interesse beider Lager, dem Verlust des jungen Friedens entgegenzuwirken.(7) Innerhalb dieser Studie gelingt es nicht, über eins der wichtigsten Argumente gegen die Beobachtung einer systematischen Isolierung innerhalb einer einseitig neugeordneten Nachkriegsordnung hinauszuwachsen. Argumentiert werden kann zum Beispiel, den Tatbestand des NATO-Russland-Rates (North Atlantic Treaty Organisation) im Abstand von zwei bis drei Generationen als wirksames Lehrstück von Deutschlands genehmigter Aufnahme in den Völkerbund (1926) abzuheben. Bekanntlich führte die einseitige Ausrichtung dieses Zuganges nicht dazu, dass das Gift des Diktates neutralisiert wurde und eine Gleichberechtigung der ausgegrenzten Nation zustande kam. Die einschneidenden Prämissen der Ausgrenzung erwiesen sich in vielerlei Hinsicht, besonders im kolonialen Bereich, als unumkehrbar.(8) Eine systematische Auflistung der Gegenargumente bzw. der Argumentation der Antithese fand sich sowohl beim amerikanischen Duo als auch beim Forum2019, mit dem sich ab 1998 dieser Autor als dessen Gründervater in die Debatte einmischte.

Die Personalien 1919 und 1991 zeigen mehrere Parallelen auf. Im Rennen um Eberts Nachfolge stritten sich 1925 der Kommunist Ernst Thälmann und der ehemalige Reichskanzler Wilhelm Marx mit dem Kriegsveteran Paul von Hindenburg. Das Profil eines Generals mit viel beachteten Verdiensten an der Ostfront (1914‒1918) spielte bei dessen Wahlsieg eine entscheidende Rolle. Somit entstammte im Endeffekt nur ein einziger Präsident dem bürgerlichen Lager. Während der Präsidentschaft Hindenburgs wurden weitere Militärs, z.B. Franz von Papen, in die höchste Ämter der Republik berufen. Da es nicht gelang, das Land mit parlamentarischen Mitteln aus der Dauerkrise des Diktats zu führen, überlegte sich der zweite Präsident letztendlich mehr oder weniger radikale Alternativen. Acht Jahre nach der Übernahme vom verstorbenen Ebert veranlasste er den Austausch des Reichskanzlers Kurt von Schleicher gegen einen kompromisslosen Versailles-Revisionisten. Der Nationalsozialist Adolf Hitler wurde Anfang 1933 zum dreizehnten Reichskanzler benannt. Diese geschichtlich sowie geschichtswissenschaftlich korrekte Reihenfolge wird im heutigen Deutschland von staatlich subventionierten Akteuren geleugnet.(9)

Kurz nach Russlands Invasion der Ukraine, 2022, meldeten sich die jeweiligen Debatter mit spannenden Rückblicken bzw. Ergänzungen zurück.(10) Ein gewichtiger Teil der Kritik an Hanson, Kopstein und anderen ist, dass die Wechselseitigkeit bzw. das multilaterale Umfeld der These ignoriert wird. Ein kritischer Blick auf die Machenschaften eines kollektiv ausgrenzenden Westens fehlt vollends.(11)

Aktuell hat die Russische Föderation im Vergleich zur ersten deutschen Republik einen doppelt so langen Werdegang vorzuweisen. Dies ändert nichts daran, dass die Parallelen auf der Führungsebene Bände sprechen. Im Siegerstaat der UdSSR (1945-1991), aus dessen Ruin die demokratische Föderation hervorging, betrug die Amtszeit des Generalsekretärs im Durchschnitt knapp sieben Jahre. In der RF liegt der Durchschnitt bald bei zwölf Jahre. Wie bei Ebert ließ die Gesundheit ihres ersten Präsidenten stark nach. Boris Jelzin übergab das Amt nach etwa acht Jahren, welche wie im historischen Präzedenzfall von tiefgreifenden Transformationen gekennzeichnet waren. Zwar trat 1999, als das Land von der NATO gleich mehrmals übergangen wurde, kein Militär an die Stelle des entkräfteten Demokraten, aber es schien kein Zufall, dass des Nachfolgers erhebliche Verdienste im paramilitärischen Bereich (Silowiki) den Unterschied zum theoretischen Doppelgänger von Marx oder Thälmann machten.(12) Die erste Amtszeit Vladimir Putins wurde von Jelzin (1931‒2007) knapp überlebt.

1933, im Jahr des Untergangs der deutschen Republik, lag der Wechsel zum Einsatz von Militärs in die Staatsführung etwa acht Jahre zurück (1925). Drei bis vier Generationen später, das heißt seit dem ähnlichen Wechsel am Beginn des neuen Millenniums in Russland, verging ein Vierteljahrhundert.

Mit der Ausnahme der zwischenzeitlichen Amtsübergabe an Dimitri Medwedew (2008‒2012) liegt im Rahmen der Hypothese praktisch dieselbe Zahl der Präsidentschaften vor wie vor hundert Jahren im ähnlichen Ungleichgewicht der westlich geprägten Nachkriegsordnung. Das heißt jeweils ein Doppelpack. Während der hochbetagte Präsident von Hindenburg nach fast zehn Jahren im Amt starb, zieht sich aktuell die Herrschaft des russischen Präsidenten in die Länge. Es kommt darauf an, die Bedeutung zeitlicher Differenzen zu relativieren. Oberflächliche Vergleiche im Bereich der Erdkunde oder Geographie verstärken diese Relativierung. Hinter den fremdartig gezogenen Ostgrenzen der Weimarer Republik befand sich zum Beispiel nichts, dass sich mit der Unendlichkeit der ostrussischen Weiten gleichsetzen liesse. Daher liegt der Weimar-Russland-These, welche hier in einer Subkategorie anschaulich gemacht wird, die oftmals ignorierte Prämisse zugrunde, dass eine Vielzahl der Abläufe wie auch Bewusstwerdungs- und Implementationsprozesse in Russlands eurasischem Großraum durchaus mehr Zeit in Anspruch nimmt als in den Staaten „Kleineuropas“, einschließlich Deutschlands. Trotz unterschiedlicher Geschwindigkeiten bewährt sich also die These.

Im Grunde genommen ist nicht vorhersehbar, von welcher Führungskraft das Erbe Putins angetreten werden wird. Darüber hinaus könnte sich der mehrjährig kriegführende Präsident, von dem sich die Amtszeit Hindenburgs aus ebenjener Hinsicht maßgeblich unterschied, zu einem Herrscher diktatorischen Stils entwickeln. In dem Fall würde es möglich sein, seine jahrzehntelange Herrschaft als ununterbrochene Parallele zu den zusammengelegten Epochen von Hindenburg und dessen kriegstüchtigem Nachfolger zu verhandeln.

Fazit: Sowohl im Westen als auch im Osten weisen derzeitige Geschehnisse und Entwicklungen unvermindert starke Parallelen zur Geschichte von Weimar/Versailles auf. Daher lebt die Debatte zur Weimar-Russland-These sowie deren Erweiterung auf ein zweites Versailles wie nie zuvor. Im Zusammenhang damit lassen sich die politisch brauchbare Vorwarnung bzw. Alarmbereitschaft erneuern. Dabei bietet dieser abgeleitete Vergleich von Führungspersönlichkeiten Halt. Wenn Parteien daran interessiert wären, nach 2014 und 2022 eine dritte Stufe der Eskalation im Stellvertreterkrieg um die Ukraine zu verhindern, so sollten komplexe Lehren der Weltkriegsereignisse, besonders der von Weimar/Versailles, in die Praxis umgesetzt werden.


Peter de Bourgraaf



Fußnoten

1.  Ulrich Herrmann, Der deutsche Makel ⎼ Der Vertrag von Versailles und die Folgen, SWR, 6. Februar 2019, S. 2 und 7.

2.  Weimarer Republik e.V.

3.  Stiftung Reichspräsident-Friedrich-Ebert-Gedenkstätte.

4.  Während der Kampagne um die Präsidentschaft 1997 verglich der Kandidat Gennadi Sjuganow das Russland-NATO-Abkommen mit dem Abkommen von Versailles, das den Ersten Weltkrieg beendete und dem geschlagenen Deutschland erniedrigende Bedingungen aufzwang. Katharina Bluhm, Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion, Berlin 2023, S. 105.

5.  Stephen E. Hanson und Jeffrey S. Kopstein, The Weimar/Russia Comparison, in: Post-Soviet Affairs 13, 3 (1997), S. 252–283.

6.  Die US-Amerikaner George Kennan und Henry Kissingen bewerten die NATO-Osterweiterung im gleichen Tonfall als eine „Katastrophe.“ Robert Skidelsky, Britain's insistence on total Ukrainian victory was misguided – it's time for a realistic compromise, in: The Guardian, 25. Februar 2025.

7.  Jost Dülffer, Rezension zu: Rödder, Andreas, Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt, München 2024.

8.  Gabriele Metzler, Zwischen Kolonialrevisionismus und Mandatspolitik. Das Auswärtige Amt und die koloniale Frage in der Weimarer Republik, in: Carlos Alberto Haas, Lars Kehmann, Brigitte Reinwald, David Simo (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und die Kolonien. Geschichte. Erinnerung. Erbe, München 2024, S. 245-277, hier 247.

9.  Weimarer Republik e.V., Übersicht des angeblichen Dutzends Reichskanzler.

10. Stephen E. Hanson und Jeffrey Kopstein, The Weimar/Russia comparison revisited, in: Russian Politics 8, 4 (2023), S. 419–439.

11. Glenn Diesen, NATO Expansionism and the Collapse of Pan-European Security, Substack, 3. Februar 2025. 

12. Bluhm, Russland und der Westen, S. 164; St. Petersburger will Diktatur. Pinochet als Vorbild, in: Neues Deutschland, 31.12.1993.

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