Friedrich Ebert im Spiegel unserer Epoche
1.900 Worte
Im Jahr 2023 liefen bei der Aufa100 Planungen, einen Beitrag zu den neuesten Entwicklungen der Weimar/Russia debate zu leisten. In diesen nunmehr dreißigjährigen Diskurs schaltete sich der niederländische Aufa100–Gründervater, damals ein frisch graduierter Historiker, von Anfang an ein. Anlässlich des hundertsten Todestages Friedrich Eberts, am 28. Februar 2025, wurde diese Teilstudie zum deutschsprachigen Leitartikel dieses Sammelbandes erfasst.
Am 11. Februar 1919 trat Friedrich Ebert, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das neu geschaffene Amt des Reichspräsidenten an. In Paris wurde der Waffenstillstand vom 11. November 1918 ein dritte und letztes Mal verlängert. Deutschland befand sich im Würgegriff revolutionärer Wellen. Daraufhin wurde der Sitz des Parlamentes und der Regierung von der Hauptstadt ins thüringische Weimar verlegt. Zum Zeitpunkt der Verlängerung wurde Deutschlands Kolonialreich von den Alliierten und Woodrow Wilsons Vereinigten Staaten zerlegt und aufgelöst. Im Vertragsentwurf vom Mai 1919 wurden die Deutschen, die während den ersten dreieinhalb Monaten von der Konferenz ausgeschlossen wurden, mit dem Beschluss dieser weißen Entkolonialisierung konfrontiert. Dabei merkte ihr Delegationsleiter an, dass das Waffenstillstandsabkommen maßgeblich verletzt wurde.(1) Im Gegensatz zu Österreich, dem die alliierten Mächte dieses Mal ohne die Beteiligung einer US-amerikanischen Delegation einen separaten Friedensvertrag auferlegten, wurde das Deutsche Reich vollkommen von der Nachkriegsordnung ausgeschlossen. Alsbald durfte die österreichische Republik einer entsprechend exklusiven Völkerbundorganisation beitreten.
Am 28. Februar 1925 starb das erste Staatsoberhaupt des post-monarchistischen Reiches nach sechs ereignisreichen Jahren im Amt. Ebert hielt den diktierten Vertrag von Versailles für „unerfüllbar, unerträglich und unannehmbar.“(2) Weder er, im Endeffekt in Zusammenarbeit mit einem halben Dutzend Reichskanzler, noch die Vertragsautoren und Schutzmächte vermochten das Diktat zu revidieren bzw. seine zutiefst stringenten Bedingungen wesentlich abzumildern. In dieser Studie werden personelle Gegebenheiten der Staatsführung im Zustand eines verlorenen und zerstörten Gleichgewichtes zwischen Ost und West analysiert. Ausgehend von der Nachkriegsordnung von 1919 wird versucht, einen Vergleich mit ähnlichen Entwicklungen ab 1991 aufzuzeigen. In der postsowjetischen Nachkriegsordnung hatten politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Unsicherheiten, die sich durch außenpolitische Herausforderungen stark vermehrten, maßgebliche Auswirkungen auf die Entwicklung eines ebenfalls ausgeschlossenen Landes. Der Bedeutung nach blieb die neu formierte Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, welche 1994 aus der gleichnamigen Konferenz von 1975 hervorging, als einzig inklusive Organisation immer mehr hinter den US-geführten, offenkundig exklusiven Bündnissen und sonstigen Organisationen zurück. 1991 wurde die Russische Föderation als Nachfolgestaat der aufgelösten Union der sozialistischen Sowjetstaaten gegründet.
Kurz nach ihrer Gründung auf den Ruinen des kommunistischen Experiments erkannten Beobachter der Ost-Westbeziehungen in ihr ein Pendant der diktierten, strukturell unterlegenen Weimarer Republik. Von ihnen wurde die Weimar-Russland-Debatte geprägt. Im desorientierten Land zwischen dem Pazifik und der Ostsee bzw. Schwarzem Meer herrschten in vielerlei Hinsicht Weimarer Verhältnisse. In der Debatte wurde zunächst Russlands politische Entwicklung vor dem Hintergrund schwacher staatlicher und gesellschaftlicher Institutionen analysiert. 1997 leisteten die US-amerikanischen Politik- und Sozialwissenschaftler Hanson und Kopstein zusammen einen maßgeblichen Beitrag. Der Auflistung einzelner Argumente wurde gleichfalls nachvollziebare Gegenargumentation ergänzt.(3)
Vergleichsweise argumentierten andere, dass die geschwächte Großmacht, abgesehen von Weimarer Verhältnissen im eigenen Haus, alsbald in diese Rolle gedrängt wurde. Im Vergleich zu den frühen 90er Jahren veränderte sich der Umgang mit dem Russland des entmachteten Michael Gorbatschows gegen Mitte des Jahrzehnts maßgeblich. Mit der Ostweiterung der US-geführten Atlantischen Allianz wurden primäre Sicherheitsinteressen Russlands ignoriert. Zur inneren Unsicherheit des vollständig transformierenden Landes kamen außenpolitische Gefährdungen der Sicherheit hinzu. Russland ausgrenzende Formen oder auch imperialistische Tendenzen der Erweiterung glichen eindeutig einem Bruch mit mehreren Abkommen zur Beendigung des Kalten Krieges.(4) Die Ignoranz der Charta von Paris für ein neues Europa sowie ähnlicher Abkommen dehnte sich auf alle der eben genannten Organisationen aus. Hanson und Kopstein gehörten nicht zu denjenigen, die die andere Seite der Medaille betrachteten. In ihrem Fall wird übersehen bzw. ignoriert, dass der machtpolitisch überlegene Westen gezielt militärische und politische (z.B. Welthandelsorganisation) Agenden zur Einkreisung bzw. dauerhaften Isolierung des Gegenübers verfolgte.
Da sich Hanson und Kopstein im neunten Jahr des Stellvertreterkrieges um die Ukraine mit einem Evaluationsbericht zur eigentlich alarmierenden Vergleichsstudie zurückmeldeten, dient deren epochales Gesamtwerk als Diskussionsgrundlage.
Im Rahmen dieser historisch-politischen Studie gehörte es zur Methodik der beiden sowie meiner, gewissenhaft die Differenzen beider Nachkriegsordnungen zu analysieren. Sollten diese im Endeffekt als schwerwiegend eingestuft werden, läge es nicht nahe, irgendwelche Rückschlüsse zum Forschungsergebnis an die Politiker und andere Entscheidungsträger heranzutragen. Entsprechend klang die Warnung ab. Auch wenn der These keine Aufmerksamkeit geschenkt wurde, lautete die Botschaft geschichtswissenschaftlicher Studien immer wieder, dem Verlust des jungen Friedens entgegenzuwirken.(5) Innerhalb dieser Studie gelang es nicht, über eins der scheinbar wichtigsten Argumente gegen das Narrativ einer systematischen Isolierung innerhalb einer einseitig neugeordneten Nachkriegsordnung hinauszuwachsen. Das Gegenargument wäre, den Tatbestand des NATO-Russland-Rates (NATO: North Atlantic Treaty Organisation) – wohl im Abstand von zwei bis drei Generationen – als wirksames Lehrstück von Deutschlands ebenso eingewilligter Aufnahme in den Völkerbund (1926) abzuheben. Bekanntlich führte die einseitige Ausrichtung dieses Zuganges nicht dazu, dass das Gift des Diktates neutralisiert werden konnte und stattdessen eine Gleichberechtigung der ausgegrenzten Nation angestrebt wurde. Dabei erwiesen sich die jeweiligen Prämissen der Ausschließung, insbesondere die im kolonialen Bereich, als unumkehrbar.(6) Die aktuelle Vergleichsstudie enthielt von Anfang an entsprechende Kritiken. Eine systematische Auflistung der Gegenargumente fand sich sowohl beim amerikanischen Duo als auch beim Forum2019, mit dem sich ab 1998 Peter de Bourgraaf als dessen Gründervater in die Debatte einmischte.
Die Personalien 1919 und 1991 zeigen mehrere Parallelen auf. Am Rennen um Eberts Nachfolge beteiligten sich der Kommunist Ernst Thälmann, der ehemalige Reichskanzler Wilhelm Marx sowie der Kriegsveteran Paul von Hindenburg. Das Profil eines Generals mit viel beachteten Verdiensten an der Ostfront (1914‒1918) spielte bei dessen Wahlsieg eine entscheidende Rolle. Somit stammte letzten Endes nur ein einziger Präsident der Nachkriegszeit dem bürgerlichen Lager. Während der Präsidentschaft Hindenburgs wurden weitere Militärs, wie z.B. Franz von Papen, in die höchste Ämter der Republik berufen. Da es nicht gelang, das Land mit parlamentarischen Mitteln aus der Dauerkrise des Diktats zu führen, überlegte sich der zweite Präsident mehr oder weniger radikale Alternativen. Acht Jahre nach der Übernahme von Eberts Amt veranlasste er den Austausch des Reichskanzlers Kurt von Schleicher gegen einen kompromisslosen Versailles-Revisionisten. Der Nationalsozialist Adolf Hitler wurde Anfang 1933 zum dreizehnten Reichskanzler ernannt. Diese ebenso historische wie geschichtswissenschaftlich korrekte Reihenfolge wird im heutigen Deutschland von staatlich subventionierten Akteuren verleugnet.(7)

Kurz nach Russlands Invasion der Ukraine (2022) meldeten sich Forscher der ersten Stunde mit spannenden Rückblicken bzw. Ergänzungen zurück.(8) Ein wesentlicher Teil der Kritik an Hanson, Kopstein und Anderen ist, dass die Wechselseitigkeit bzw. das multilaterale Umfeld der These ignoriert wird. Ein kritischer Blick auf die Machenschaften eines kollektiv ausgrenzenden Westens fehlt vollends.(9)
Aktuell hat die Russische Föderation im Vergleich zur ersten Deutschen Republik einen doppelt so langen Werdegang vorzuweisen. Dies ändert nichts daran, dass die Parallelen auf der Führungsebene Bände sprechen. Im Siegerstaat der UdSSR (1945–1991), aus dessen Ruin die demokratisch gegründete Russische Föderation hervorging, betrug die Amtszeit des Generalsekretärs im Durchschnitt knapp sieben Jahre. In der RF liegt der Durchschnitt bald bei zwölf Jahren. Wie in Eberts Fall ließ die Gesundheit ihres ersten Präsidenten stark nach. Boris Jelzin übergab das Amt nach etwa acht Jahren. Wie im historischen Präzedenzfall, war dieser Zeitraum bis zum Ende von tiefgreifenden Transformationen gekennzeichnet. Hinzu kam eine weltweite Finanzkrise, die im Westen logischerweise schneller überwunden wurde (1923 versus 1998). Zwar trat 1999, als das Land vom westlichen Militärbündnis NATO in Wort und Tat gleich mehrmals übergangen wurde, kein Militär an die Stelle des entkräfteten Demokraten, aber es schien kein Zufall, dass die paramilitärischen Verdienste des Nachfolgers (Silowiki) den Unterschied zum hypothetischen Doppelgänger von Hindenburgs Konkurrenten Marx und Thälmann machten.(10) Die erste Amtszeit Vladimir Putins wurde von Jelzin (1931–2007) knapp überdauert.
1933, im Jahr des Untergangs der Deutschen Republik, lag der Wechsel zum Einsatz von Militärs in die Staatsführung etwa acht Jahre zurück (1925). Die Wandlung in den bewaffneten Konflikt wurde durch Hindenburgs eigens berufenen Nachfolger entschieden vorangetrieben. Seit dem ähnlichen Wechsel zu Beginn des neuen Jahrtausends in Russland verging ein Vierteljahrhundert, in dem der Stellvertreterkrieg in und um die Ukraine ausbrach.
Mit der Ausnahme der zwischenzeitlichen Amtsübergabe an Dimitri Medwedew (2008‒2012) liegt im Rahmen der Hypothese praktisch dieselbe Zahl der Präsidentschaften vor wie vor hundert Jahren im ähnlichen Ungleichgewicht der westlich geprägten Nachkriegsordnung: im Doppelpack. Während der hochbetagte Präsident von Hindenburg nach fast zehn Jahren im Amt starb, zieht sich aktuell die Herrschaft des russischen Präsidenten in die Länge. Dabei fällt es einem nicht schwer, die Bedeutung zeitlicher Differenzen zu relativieren. Dies wird durch geographische Vergleiche verstärkt. Hinter den fremdartig gezogenen Ostgrenzen der Weimarer Republik befand sich zum Beispiel nichts, dass sich mit der Unendlichkeit der ostrussischen Weiten gleichsetzen ließe. Eine Vielzahl der Abläufe sowie auch Bewusstwerdungs- und Implementationsprozesse in Russlands eurasischem Großraum nimmt durchaus mehr Zeit in Anspruch als in den Staaten „Kleineuropas“, einschließlich Deutschland. Trotz unterschiedlicher Geschwindigkeiten hat sich die Weimar-Russland-These bewährt.
Für sie scheint von entscheidender Bedeutung, welche Führungskraft im zweiten Vierteljahr dieses Jahrhundert das Erbe Putins antreten wird. Bevor es dazu kommt, könnte sich der langjährig amtierende Präsident zu einem Herrscher diktatorischen Stils entwickeln. In dem Fall würde es möglich sein, seine jahrzehntelange Herrschaft als ununterbrochene Parallele zu den zusammengelegten Epochen von Hindenburg und dessen kriegstüchtigem Nachfolger zu verhandeln.
Fazit: Sowohl im Westen als auch im Osten weisen derzeitige Geschehnisse und Entwicklungen unvermindert starke Parallelen zur Geschichte von Weimar/Versailles auf.(11) Allerdings wird es zu Kriegszeiten noch weniger als zuvor gelingen, das Bild eines zweiten Versailles (1919–1939) über den akademischen Bereich hinaus salonfähig zu machen und die politisch brauchbare Vorwarnung bzw. Alarmbereitschaft wirkmächtig zu erneuern. Im Kontext des nuklearen Zeitalters scheint es unvergleichbar dringlicher als im Präzedenzfall, weitere Eskalationen nach der von 2022 zu verhindern.
Peter de Bourgraaf
Fußnoten
1. Ulrich Herrmann, Der deutsche Makel ⎼ Der Vertrag von Versailles und die Folgen, SWR, 6. Februar 2019, S. 2 und 7.
3. Stephen E. Hanson und Jeffrey S. Kopstein, The Weimar/Russia Comparison, in: Post-Soviet Affairs 13, 3 (1997), S. 252–283.
4. Die US-Amerikaner George Kennan und Henry Kissingen bewerten die NATO-Osterweiterung im gleichen Tonfall als eine „Katastrophe.“ Robert Skidelsky, Britain's insistence on total Ukrainian victory was misguided – it's time for a realistic compromise, in: The Guardian, 25. Februar 2025.
5. Jost Dülffer, Rezension zu: Rödder, Andreas, Der verlorene Frieden. Vom Fall der Mauer zum neuen Ost-West-Konflikt, München 2024.
6. Gabriele Metzler, Zwischen Kolonialrevisionismus und Mandatspolitik. Das Auswärtige Amt und die koloniale Frage in der Weimarer Republik, in: Carlos Alberto Haas, Lars Kehmann, Brigitte Reinwald, David Simo (Hrsg.), Das Auswärtige Amt und die Kolonien. Geschichte. Erinnerung. Erbe, München 2024, S. 245-277, hier 247.
7. Weimarer Republik e.V., Übersicht des angeblichen Dutzends Reichskanzler.
8. Stephen E. Hanson und Jeffrey Kopstein, The Weimar/Russia comparison revisited, in: Russian Politics 8, 4 (2023), S. 419–439.
9. Glenn Diesen, NATO Expansionism and the Collapse of Pan-European Security, Substack, 3. Februar 2025.
10. Katharina Bluhm, Russland und der Westen. Ideologie, Ökonomie und Politik seit dem Ende der Sowjetunion, Berlin 2023, S. 164; St. Petersburger will Diktatur. Pinochet als Vorbild, in: Neues Deutschland, 31.12.1993.
11. Während der Kampagne um die Präsidentschaft 1997 verglich der Kandidat Gennadi Sjuganow das Russland-NATO-Abkommen mit dem Abkommen von Versailles, das den Ersten Weltkrieg beendete und dem geschlagenen Deutschland erniedrigende Bedingungen aufzwang. Bluhm, Russland und der Westen, S. 105.
