Nach 19 US-Präsidenten ist 1915 wieder da
Bidens Anerkennung des Genozids an den Armeniern.
Was und warum nach einem Jahrhundert
ESSAY
In den ersten hundert Tagen seiner Amtszeit gab Joe Biden, US-Präsident seit Januar 2021, sowohl der Gedenkpolitik als auch Erinnerungskultur zum Ersten Weltkrieg Raum. Eine Woche nach der Eröffnung des nationalen Denkmals in der Hauptstadt Washington erkannte der Amerikaner den türkischen Überfall von 1915 als Völkermord an. Der millionenfache Mord an den Armeniern leitete de facto die „Zivilisierung“ des Weltkrieges (Ausweitung der Begrifflichkeit nach Jay Winter) ein. Während des Massakers rundum den Ararat befanden sich die Vereinigten Staaten im neutralen Lager, wie Spanien oder die Niederlande. Bis zur heutigen Anerkennung des Verbrechens brauchte es ab Woodrow Wilson (1913-1921) neunzehn US-Präsidenten. Kurz zuvor verlor Armenien einen wochenlangen Krieg mit Aserbaidschan, das von der Türkei unterstützt wurde. Seit dem Waffenstillstandsabkommen vom 9. November 2020 überwacht die Russische Föderation diese Schnittstelle des eurasischen Raums.
>> Hören Sie „Mit dem Rücken zur Wand“, Daniel Guthmanns Feature im Deutschlandradio, 18. Mai 2021 << Erfahren Sie im Anschluss an Janina Cymborskis Essay über die kontinuierliche Rolle der Türkei ab 1915.
(850 Wörter, neun Absätze)
Mit der Anerkennung des Genozids der Armenier hat der US-amerikanische Präsident gut ein Jahrhundert nach diesem Ereignis im ersten Weltkrieg einen gordischen Knoten der Diplomatie gebrochen. Um die internationale Anerkennung wurde jahrzehntelang gerungen.
Dass Deutschland - inmitten des Weltkriegsgedenkens von 2014 bis 2019 - erst vor fünf Jahren die Verbrechen an den Armeniern offiziell als Völkermord bezeichnete (per Beschluss des Bundestages, 2. Juni 2016), lässt die Frage zu, was genau die Bedeutung dieses Prädikats ausmacht?
Die Anerkennung eines Genozids im Sinne der Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide verfolgt in der Regel verschiedene politische Zwecke. So ermöglicht dieses Abkommen der Vereinten Nationen aus dem Jahr 1951 innerhalb der betroffenen Staaten die Bestrafung und Verfolgung der Täter, eine politische und moralische Verurteilung besonders der beteiligten gesellschaftlichen Elite. Darüber hinaus hat dies ebenso präventive Funktion und beeinflusst die Erinnerungskultur des Landes. Weitreichendere Folgen haben allerdings auch die möglichen Rechtsansprüche der Opfer, Restitutionen und Entschädigungen bis hin zu Gebietsabtretungen und Grenzziehungen. Einer möglichen Anerkennung stehen daher hohe gesellschaftliche Risiken und Kosten gegenüber, die gegen den Nutzen abgewogen werden. Einer Nicht-Anerkennung kann bereits vorhandene Isolation durch die internationale Gemeinschaft verstärken.
Prominentestes Beispiel und (haupt)ursächlich für den Begriff Völkermord und die Entstehung der Völkermordkonvention ist der Holocaust, das deutsche Verbrechen einer gezielten "Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa". Für den millionenfachen Mord an Polen, Sinti, Roma, Juden und zahllosen anderen prägte Raphael Lempkin den Begriff des Völkermords, bzw. Genozids. Heute gilt Deutschland gemeinhin als Musterland der Erinnerungskultur und Aufarbeitung der Verbrechen des Dritten Reiches, gleichwohl hier Zweifel angebracht sein dürfen. Betrachtet man allerdings die deutsche Staatsräson in Bezug auf den Staat Israel, dessen Sicherheit zentraler Bestandteil dieser Staatsräson ist, so wird die weitreichende Bedeutung, die dem Begriff und vor allem der Anerkennung des Völkermords zugrunde liegt, deutlich. Auch heute noch prägt der Holocaust die Beziehung zwischen Deutschland und Israel, verbindet beide Staaten und Gesellschaften auf einzigartige Weise, so wie auch die Shoah als einzigartig in der Geschichte der Menschheitsverbrechen gilt. Israels Zurückhaltung in der Anerkennung des Genozids an den Armeniern ist so unter anderem auch dem Vermeiden des "Wettbewerbs" der Erinnerungspolitiken geschuldet, fiele doch der Gedenktag des armenischen Völkermords je nach jüdischem Kalenderjahr in die Nähe zu seinem Holocaust-Gedenktag. Daran hat die postkoloniale Debatte der Gegenwart kaum etwas geändert.(1)
Genozid ist seit dem Zweiten Weltkrieg zunächst also ein politisch-moralischer Begriff, der viel zu oft von Staaten oder Gruppen zum Zwecke der Durchsetzung eigener Interessen gebraucht wird. Beispielhaft deutlich wird dies am Agieren der USA während des Völkermords, der 1994 von den Afrikanern Ruandas begangen wurde. Lange hatte die Clinton-Administration gezögert, von einem Genozid zu sprechen und sprach stattdessen von einem Bürgerkrieg. International koordiniertes Eingreifen wurde somit erst um ein vielfaches verspätet möglich gemacht.
Doch was ist Genozid und wann kann von einem solchen überhaupt gesprochen werden? Legt man eine breite Definition des Begriffes, wie er in der Völkermord-Konvention verwendet wird, zugrunde, so ist bereits von Völkermord zu sprechen, wenn es sich um die Absicht handelt, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Diese breite Auslegung macht die Einordnung nicht einfacher, ließen sich so doch sehr viele Ereignisse aus Jahrhunderten der Kolonialgeschichte der Geschichte entsprechend deuten. Insofern, und da sind sich viele Experten heute einig, ist der Holocaust keine Besonderheit menschlicher Abgründe, sondern eine Kulmination der in den Kolonien und unterworfenen Gebieten begangenen Gräuel, Massaker und der Auslöschung ganzer Stämme, Gruppen und Ethnien - der banalen und schrecklichen Facetten imperialistischen Kolonialismus.
Nun könnte man argumentieren, dass es nicht viel Sinn macht, darüber zu sprechen, was nun wann ein Genozid ist, wenn es diesen nicht verhindert. 1995 schaute die Welt tatenlos zu, wie die UN-Blauhelme in Srebrenica zu Handlangern von Ratko Mladics mordenden Truppen wurden. Nicht lange davor taktierten die USA und ließen das Abschlachten hunderttausender Tutsi zu. Frankreichs Rolle während dieses afrikanischen Völkermords wurde von einer eigens gegründeten wissenschaftlichen Kommission untersucht. Mit ihrem jüngst veröffentlichten Abschlussbericht wird, so bleibt zu hoffen, eine Wende in der Aufarbeitung des französischen Imperialismus eingeleitet.
Was ändert die US-amerikanische Anerkennung des Völkermords an den Armeniern? Dass der mächtigste Staat der Welt - der Staat, der an der internationalen Normsetzung mehr als jeder andere direkt beteiligt ist - im Nachhinein einen Völkermord anerkennt, ist kein Feigenblatt der Geschichte. Wenn es das wäre, würden Regierungen nicht so sehr um jede Formulierung ringen. Kein Staatsoberhaupt, ob Autokrat oder Demokrat, möchte mit dem Vorwurf eines Völkermords belastet werden. Die Ächtung der internationalen Gemeinschaft, die Ausgrenzung und die moralische Waffe gegen ihn in jeder Verhandlung schwächen die eigene Position im globalen Mächtegerangel. So eigennützig das amerikanische Kalkül im Falle Armeniens auch sein mag - für das armenische Volk und die Nachfahren der Opfer ist diese Anerkennung nach Jahrzehnten des Kampfes ein Sieg und ein Meilenstein, mit dem bestenfalls ein neues Kapitel in der Beziehung zur Türkei eröffnet wurde? Möglich, dass auf internationalen Druck hin eine Anerkennung durch Ankara erfolgt. So unwahrscheinlich das momentan auch aussehen mag, so unausweichlich ist es schließlich doch.
Janina Cymborski
Anmerkungen
1. Ben Aharon, Eldad (2021): Why Won't Israel Recognize the Armenian Genocide? It's Not Just About Turkey. Biden is preparing to recognize the Armenian genocide. So why is Israel, founded in the wake of genocide, holding out? How far does Israel's decision really rest on the state of relations with Ankara and Erdogan? https://www.haaretz.com/middle-east-news/.premium-why-won-t-israel-recognize-the-armenian-genocide-it-s-not-just-about-turkey-1.9731967