Dawes. Der kleine Wilson 1924–29

09-10-2024

„Das ist das große Drama unseres beginnenden 21. Jahrhunderts, das auf was wie uns geeinigt haben, diese Regeln, nach diesen Schrecken des Ersten und Zweiten Weltkrieges, diese Weiterentwicklung der Idee des Völkerbundes, die UN-Charter, der UN-Sicherheitsrat, das interessiert leider niemand mehr. Jeder tritt es mit Füßen.“

Oberst Markus Reisner, 3. Oktober 2024

Somit stellt sich von uns aus die Frage, ob es Sinn macht, die Tätigkeiten als Historiker oder Friedensforscher fortzusetzen. Kein Problem für transnational Operierende, weil unter Umständen machte es zum Beispiel 1932 (British geführter Völkerbund) oder 1939 Sinn. Auf zu neuen Taten:


Dawes. Der kleine Wilson 1924–29

Vor 105 Jahren wohnte der Entstehung internationaler Organisation in ständiger Vertretung ein amerikanischer Entwurf inne. Sie wurde vom Präsidenten Woodrow Wilson, welcher als Leiter der US-amerikanischen Delegation in Paris als erster US-Präsident Europa besuchte, League of Nations getauft. Während der insgesamt fünfeinhalb Monate der Abwesenheit von Washington ließ sich Wilson eine weitgehende Aushöhlung seines Entwurfes gefallen. Er verhinderte nicht, dass die Konferenz durch David Lloyd George's Imperialisten und die quasi selbständig vertretenen Empire-Kolonisten unter der Leitung von dessen Schützling Jan Smuts kurzerhand kolonisiert wurde. Dabei stellte sich Wilson bis zum physischen Verderben vor, die Gründung wäre trotz massiven Widerstandes des britischen Duos reibungslos verlaufen. Nach seiner Rückkehr in die Heimat entschloss sich die angemessen funktionierende Demokratie der Staaten, den Vertrag und „Bund von Versailles“ abzulehnen. In den 105 Jahren seit dieser folgenschweren Nichtratifizierung geschah es nie wieder, dass ein ausgehandelter Vertrag des Präsidenten vom Kongress in Washington D.C. abgelehnt wurde. Dem Kongress wurde klar, dass es Wilson nicht gelungen war, Europas Konferenzleiter und die genannten Kolonisten auf die wesentlichsten Punkte seines Programms einzustimmen. Dieses Programm lag dem Waffenstillstandsabkommen vom 11. November 1918 zugrunde. Durch ein Zurücktreten in welcher Form auch immer würde der Friede in weite Ferne rücken. Widersprüchlich zu der angelsächsisch gefärbten Historiographie kam eine kolonisierte Kaperversion von Wilsons bahnbrechendem Entwurf zustande.(1) Erstens hatte dies die Fehlgeburt des Bundes zur Folge. Der Erfolg einiger Unterabteilungen wie der International Labour Organisation stand der historischen Bewusstwerdung dieses schicksalhaften Vorgangs im Weg. Zweitens rückte der Frieden in weite Ferne, was unausweichlich den erneuten Kriegszustand nach sich ziehen würde.

In der Historiographie wird der Einfluss der britischen Kolonisten aus Südafrika, Australien und Neuseeland verkannt. Die Waffenstillstandsbedingungen, vor allem den Punkt zur internationalen Organisation, interessierte sie nicht, weil diese insgesamt zur Rückgabe der eroberten Kolonien Deutschlands führen mussten. Weder auf der Pariser Konferenz noch in der Geschichtsschreibung wurde Smuts Delegation sonderlich viel Beachtung geschenkt.

Hier würde es Sinn machen, die Beziehungen und Interessen wissenschaftlich aufzuarbeiten, um die unversöhnliche Haltung dieser „dritten Entente-Partei“ auszuwerten. So können auch Ereignisse der 1920er Jahre besser eingeordnet werden. In der Geschichtsschreibung wird auf die Unversöhnlichkeit Frankreichs aufmerksam gemacht. Die später formulierten Forderungen des Gastgebers sollen aber vor dem Hintergrund der Ereignisse vor der großen Pause von Mitte Februar beleuchtet werden.

Internationale Organisation erfordert nicht zwangsläufig, dass ihrer Gründung oder Ausrichtung moralische oder auch stark moralisierende Argumente gegen einen entsprechend ausgegrenzten Großstaat zugrunde liegen. 1919 wurde das innerlich transformierende Deutschland aufgrund von zwei Schuldzuweisungen nicht nur von der Konferenz, sondern auch von der Nachkriegsordnung ausgeschlossen. Mit der kolonialen Schuldzuweisung hat sich Peter de Bourgraaf in seinem Zentenariumsbuch sowie an anderer Stelle unserer Kommissionsarbeit auseinandergesetzt.

Seit dem Beginn der kollektiven Internationalismusgeschichte wurde die moralisch begründete Ausgrenzung eines ehemaligen Feindes zweimal großzügig ins Spiel gebracht. Der zweite Kasus dieser Theorie wurzelt in Ereignissen am Ausgang des Jahrhunderts der Weltkriege. Verstörend wirkt sie von vornherein. Sollte sich die Theorie behaupten, bröckelt eine Sicherheit der Mainstream Historiographie: Nach dem verheerenden Ausgang des Kasus 1919–1945 sollte sowohl dessen Lehre als auch Gedächtnis gefruchtet haben. Die Theorie einer Wiederholung fand ihren Anfang im politischen Kurs, der ab Mitte der neunziger Jahre in Washington und New York eingeschlagen wurde. Es steht fest, dass die russischfeindliche Politik von den Vereinigten Staaten und, wie 1919, von Großbritannien konsequent fortgeführt wurde. Ob damals oder im zeitgenössischen Fall, diese westliche Politik soll im Kern als eine europafeindliche divide et impera betrachtet werden. In die Rolle des transformierenden Deutschlands während der ersten Nachkriegsordnung wurde nun die Russische Föderation gedrängt. Im Inneren des jeweils isolierten Staates lag die Parallele zwangsläufig vor. Eingehende Transformationen beschäftigte in dem gleichen Abstand von siebzig bis achtzig Jahren die Jungdemokratie in Mittel- und dann Osteuropa.

Wie sah die politische Welt vor einhundert Jahren aus? In den beiden Krisenjahren (1922–23) der deutschen Republik wurde im Westen nicht nur tatenlos zugeschaut. Anfang 1924 reiste Charles Dawes, ein amerikanischer Finanzexperte, nach London, um sich mit dem britischen Kollegen Reginald McKenna über die Reparationsleistungen Deutschlands zu beraten.(2) Nachdem sein Ausschluss auf der Konferenz von 1919 beschlossen wurde, zeigte sich der offensichtlich kategorische Charakter der Ausgrenzung. Acht Monate sollte es dauern, bis in London eine Berliner Delegation ihre Präsenz zeigen durfte. Unter der Leitung Gustav Stresemanns waren die Deutschen darum bemüht, für ihre neue Währung zu werben. Mit der Einführung der Rentenmark Ende des Jahres 1923 wurden die Krisenjahre erfolgreich abgeschlossen.

Die Londoner Konferenz mit dem folglich der Nichtratifizierung als neutral geltenden Amerikaner fand unter der Leitung des ersten Ministerpräsidenten der Labour-Partei Ramsey MacDonald statt. Keine zwei Monate später fand dessen Regierungsperiode, welche sich nicht von der jeweils kurzen Dauer der Kollegen in der Weimarer Republik abhob, im Jahr des Antritts ihr Ende. Kurz nach seiner Rückkehr aus England avancierte Dawes unter dem Republikanischen Präsidenten Calvin Coolidge zu dessen Vizepräsidenten. Der „kleine Wilson“ wurde 85 Jahre alt und starb wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg in Chicago.

Wie sah das Umfeld aus der Vogelperspektive aus? Deutschland erreichten die Berichte der Londoner Konferenz zu einer Zeit, als das erste Jubiläum der Weimarer Verfassung gefeiert wurde. Am 11. August, Verfassungstag, lud beispielsweise die Stadt Weimar zu einem öffentlich begangenen Festprogramm ein.

Was ergab der Dawes-Plan sonst? Fortan wurde die Rentenmark als Reichsmark gehandelt. Diese erwies sich als stabil. Das Deutsche Reich sollte fünf Jahre lang zunächst weniger zahlen als ursprünglich vorgesehen war. Ab 1929 sollten die jährlichen Zahlungen auf 2,5 Milliarden Goldmark steigen. Zur Ankurbelung der deutschen Wirtschaft wurde eine Auslandsanleihe in Höhe von 800 Millionen Goldmark gewährt.(3)

Sicherlich war der deutschen Republik mit der Dawes-Intervention geholfen. Dies beruhte natürlich auf der Grundlage, dass das britische Interesse am Fortbestand der umfassenden Errungenschaften aus Paris und Versailles gewährleistet war. Fraglich ist aus deutscher Perspektive, ob sich diese offenbar kurzfristige Linderung irgendwann in eine Beständigkeit umsetzen ließe. Besonders interessant war, was gerade 1929 geschah und vor allem, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise für den Dauerschuldner von Versailles hatte. Ebenso fraglich ist, ob es den Ententemächten überhaupt in den Sinn kommen wollte, gerechtfertigte Wünsche nach einer nicht nur monetären, sondern auch Moral wiederherstellende Revision des fünf Jahre alten Vertrages zu berücksichtigen.

Im Kontext interessant ist, was im August 2024 über die Deutschen durch die Deutschen berichtet wird. Bei den Kollegen von Auf-den-Tag-genau wurde der historisch ernüchternde Bericht von Ludwig Bauer aufgearbeitet. Im Hamburger Anzeiger des 1. August 1924, also kurz vor dem ersten Republikfest, ließ der Pazifist aus den Alpenrepubliken zum zehnten Jahrestag des Kriegsausbruches 1914 Folgendes verlautbaren:

„aus jeder Bahn geworfenes Dasein“, eine Qualifikation, mit welcher er die Fassung des Bürgers der Weimarer Republik umschrieb.

„In Deutschland und Österreich schien es, als ob sich in den letzten Monaten wieder ein Teil des Bürgertums wirtschaftlich befestigen und seine alte Mission neu ausüben würde. Diese hoffungsvolle Entwicklung wird im Augenblick wieder bedroht.“

„die fehlende Sicherheit, die das Kennzeichen der letzten zehn Jahre ist, …“

„Unsicherheit verhindert Güte.“

Hier kommt die Theorie ins Spiel. Als würden diese Worte nicht die Erinnerung wecken, dass der Russe im ausgehenden 20. Jahrhundert, als sich dessen Staatswesen ebenfalls einer allumfassenden Neuformierung unterzog, mit ähnlichen Bedingungen klarkommen musste. Der Historiker Glenn Diesen wies darauf mit der alarmierende Begriffsbildung eines „zweites Versailles“ hin.(4)

In der Historiographie wird der Plan von 1924 oftmals wie eine Harmonie wiederbringende Lösung zelebriert. Dabei ist wichtig zu beobachten, dass sich diese auf den wirtschaftlichen Bereich beschränkte. Eben da kommt der Moral bzw. der „Bund von Versailles“ des politisch übergeordneten Bereiches ins Spiel.

Bauer kommt einmal mehr zu Wort: „Sie (die Späteren) werden sich ebenso schwer in unserer sonderbar aus allen Fugen geratene Zeit hineinfinden können, wie wir in vergangene. Wer in einer sicheren Zeit Lebt, da alles gilt, Grenze, Geld, Arbeit, der vermag sich die Verwirrung in der Unsicherheit kaum vorzustellen.“ Laut einem Adagium des Kollegen Peter Finke heißt das Heilmittel Entideologisieren.


Peter de Bourgraaf



Fussnoten

1.  „Vor allem die transnationale Perspektive auf die Zwischenkriegszeit ist ein Desiderat der Forschung.“ Luisa Eckert, Bericht zur 63. Internationale Tagung für Militärgeschichte, Potsdam, 11.-13. September 2024, https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-150283.

2.  Volker Ullrich, Deutschland 1923. Das Jahr am Abgrund, C.H. Beck: München 1923, S. 332.

3.  DHM LeMO, https://www.dhm.de/lemo/jahreschronik/1924<br>.

4.  „Time for NATO to retire?“, Glenn's Substack, 24. September 2024, https://glenndiesen.substack.com/p/time-for-nato-to-retire.