Bloody Sunday und die postkoloniale Debatte
Wie im nordirischen Derry dem Massaker an vierzehn Demonstranten gegen die Teilung ihres Landes gedacht wird, verdeutlicht die Rolle gesellschaftlicher Machtverhältnisse in der Erinnerungskultur, hier am Beispiel 🇬🇧.
Am 30. Januar jährte sich in der nordirischen Stadt Derry der sogenannte Bloody Sunday zum fünfzigsten Mal. Am jenem Tag im Jahr 1972 eröffneten britische Soldaten auf einen unbewaffneten Protestzug von mehr als 10.000 Menschen das Feuer. Dreizehn von ihnen starben noch vor Ort. Fast vierzig Jahre schwieg das Gerichtswesen. Als 2010 einer der für dieses Massaker verantwortlichen Soldaten wegen Mordes angeklagt wurde, musste er sich nicht vor Gericht verantworten.
Jener blutige Sonntag ging als Beginn der sogenannten Troubles in die Geschichte ein, denn er markierte nicht nur das Ende zivilen Protests gegen die Teilung und die britische Herrschaft. Er bescherte der nationalistischen IRA (Provisional Irish Republican Army) einen ungekannten Zustrom an jungen Freiwilligen, die sich nun gewaltsam gegen die Kolonialherren zur Wehr setzten. In den folgenden Jahrzehnten bis zum Friedensprozess und dem Karfreitagsabkommen 1998 starben mehr als 3.500 Menschen. Ein paar Jahre zuvor wurde Namibia als letzte Kolonie Afrikas entkolonialisiert.
Bis heute und trotz erfolgreichen Friedensprozesses ist die nordirische Gesellschaft tief gespalten. Die Gräben ziehen sich noch immer entlang der Linie Unionisten und Irische Republikaner und zwar weit über Ulster hinaus. Wer dies in Zweifel zieht, sollte sich die Frage stellen, warum trotz umfassender internationaler Berichterstattung des fünfzigten Jahrestages kein Repräsentant des Vereinten Königreichs bei der Gedenkveranstaltung in Derry zugegen war. Zwar schien ein Wendepunkt erreicht als sich im Jahr 2010 Premierminister David Cameron im Namen der Regierung für das Massaker in Derry entschuldigte. Jedoch verschärfte Englands Alleingang gegenüber der europäischen Bewegung, a.k.a. Brexit, die Spannungen auf der irischen Insel erneut. Die Frage nach Grenzen, an denen eine Journalistin bei der Arbeit ermordet wurde, Zugehörigkeit und kollektiver Selbstbestimmung stehen erneut zur Disposition.
Das scheinbar unbedeutende Detail der Nichtanwesenheit britischer Repräsentanten in Derry wird dann bedeutend, wenn man sich vergegenwärtigt, wie derartigen Meilensteinen der Geschichte in anderen Ländern gedacht wird. Als Barack Obama 2015 in Selma eine Rede an der Edmund-Pettus-Bridge hielt, um dem fünfzigsten Jahrestag des dortigen Bloody Sunday zu gedenken, zeigte zum Beispiel auch ein ehemalige US-Präsident für die Republikaner Präsenz. Am 7. März 1965 wurde der unbewaffnete Protest schwarzer Bürgerrechtler um Martin Luther King gewaltsam niedergeschlagen. Ein halbes Jahrhundert später gedachten somit ranghohe Vertreter beider führenden Parteien des Landes der Opfer von Gewalt, Rassismus und Unterdrückung.
Welche Rolle Jahrestage in der kollektiven Erinnerung spielen und welche Bedeutung diese für die dominierenden Gruppen einer Gesellschaft haben, zeigt sich also vor allem im Umgang mit ihnen. Dem Jahrhundertgedenken anlässlich des Waffenstillstandes vom 11. November 2018 in Paris wohnten neben dem Gastgeber 🇫🇷 Vertreter zahlreicher Länder wie den USA, Irland, Kanada, Israel, der Türkei, Russland, Japan und China bei. Unter den 120 Delegierten befand sich niemand aus Großbritannien. Das britische Fernbleiben war vor dem Hintergrund der großen Nationalfeiern zu dieser Geschichte mehr als ungewöhnlich. Ebenso bemerkenswert ist, dass sich die Wissenschaftler über diesen schroffen Nationalismus genauso hinwegzusetzen scheinen als die Medien.
In Erinnerungskulturen spiegeln sich gesellschaftliche Machtverhältnisse und vorherrschende Ideologien wider. Besonders im Fall des Vereinigten Königreiches werden bestimmte Ereignisse und deren Bedeutung marginalisiert. Nicht nur in Brexit-Britannien, sondern auch auf der Ebene der Europäische Union weist die postkoloniale Debatte bis dato große Lücken auf. Dieses geteilte Kapitel der Vergangenheitsbewältigung steckt in den Kinderschuhen.
Diese
Lücken und Widersprüche aufzuarbeiten, ist das Anliegen der Aufa💯.
Janina Cymborski
👂🏻Hör🪟fenster unserer „Brüder“ in Berlin: podcast.