Fanny, Petit Paris
„Das heißt nicht: réparation. Das ist séparation.“ Am 18. März 1921 wandte sich Fanny Klinck im Namen aller deutschen Frauen an den Völkerbund. Dreizehn Monate nach dem ursprünglichen Jahrhundertblogpost vom 18. März 2021, siehe unten, macht Aufa💯 damit ihr Debüt in Deutschlands Medien.
Ein faszinierendes Zeitdokument, das die Vereinigten Nationen vor kurzem veröffentlichten und als Teil einer vernachlässigten Geschichte verstanden werden soll, die insgesamt zur Aufarbeitung des Kolonialismus gehört. Zu dieser neuesten Entwicklung der Erinnerungskultur bekannte sich Ende 2020 der Rat der Stadt, aus der Fanny ihren bemerkenswerten Brief verschickte.
Eine Leipzigerin über London, League & Lloyd George
ESSAY
Vor einhundert Jahren: Grüße aus Leipzig - Brief an den Völkerbund
(1.030 Wörter)
Knapp zwei Jahre nachdem der gerade gegründeten Deutschen Republik von 27 Staaten und fünf britische Kolonialverwaltungen in Paris eine ebenso postkoloniale wie imperialistische bzw. subimperialistische „Friedensordnung“ diktiert wurde, ging in der frisch eröffneten Geschäftsstelle des Völkerbundes in Genf der Brief einer Leipziger Bürgerin namens Fanny Klinck ein. Der Vertrag von Versailles beginnt mit 26 Artikeln zur Gründung dieses britisch geführten Bundes. Es wäre interessant zu wissen, was der Brief an ihrer französisch- und englischsprachigen Poststelle bewirkte. Er beginnt mit der Überschrift:
„Deutschlands Frauen erheben Protest gegen Sanktionen als Akte der Arglist, Willkür und Gewalt“ und verurteilt vehement die „Aktionen der Justiz“, die willkürlichen Forderungen und die Unmöglichkeit der Leistung - der Reparationszahlungen, die durch den aufgezwungenen Krieg aufgebracht werden müssen.(1) Wohlgemerkt reklamiert Klinck nicht, für das Vaterland insgesamt zu sprechen, wohl aber im Namen aller Frauen Deutschlands. Das war recht ungewöhnlich für eine Zeit, in der das allgemeine Wahlrecht gerade erst erkämpft wurde. Überdies sei es ein bemerkenswerter Zufall, dass 1865 im Wohnort der Verfasserin der erste Allgemeine Deutsche Frauenverein gegründet wurde.
Mit einem Zitat des historiographisch fehlgedeuteten Konferenzleiters David Lloyd George, der zeitgleich dem ausschließlichen britischen Subimperialismus auf den Weg brachte, der „Reparationen wolle bis zum Weißbluten, bis der letzte Pfennig herausgeholt worden sei,“ unterstrich Fanny Klinck auf insgesamt sechs Seiten ihre Empörung über die Absicht, die deutsche Nation handlungsunfähig zu machen. Wie sehr die entrüstete Bittstellerin sich um die nationale Ehre sorgte, wurde nur allzu deutlich an Wendungen wie „begründete Ansprüche der Frauen auf Ehre und Ansehen der Nation“ oder die „unter der glühenden Sonne Afrikas geleistete Kulturarbeit.“ Mit dem Begriff des 1919 oder 1920, mutmaßlich auf deutscher Seite geprägten Begriffs des Subimperialismus wurde die Inbesitznahme des deutschen Kolonialreiches angedeutet.(2) Während des verlängerten Waffenstillstandes im Pariser Winter sowie im Widerspruch mit deren Grundlage wurde die schlagartige Dekolonisierung des Landes von den Briten und deren Selbständigkeit fordernden Kolonisten beschlossen. Folgerichtig protestierte die aufmerksame Frau gegen die erpressten Schuldanerkennungen kolonialer Unfähigkeit und der Urheberschaft des Weltkrieges. In den beiden Bereichen von einerseits Übersee und andererseits Europa wurde das deutsche Volk als Ganzes in eine Verbrecherrolle gerückt. Während der Eröffnungsphase der Pariser Konferenz wurde ihm die Schuld an einer humanitär und moralisch minderwertigen Kolonialverwaltung zugeschoben, was der Weltöffentlichkeit einschließlich seiner bis April bzw. Mai verborgen blieb. Erst am Vorabend der Unterzeichnung, als sich der amerikanische Präsident Woodrow Wilson insgesamt fünf Monate in Westeuropa befand, wurde unter dem Druck der doppelt vertretenen Briten die allumfassende Kriegschuldklausel aufgesetzt.(3) Wichtig ist, festzuhalten, dass der Trend zur Deutschland pauschal ausgrenzenden Neuordnung im Kolonialbereich gesetzt wurde.
Was in Folge mit dem sächsischen Brief in der Vertretung von 43 Nationen unter dem Dach des verwaisten Völkerbundes passierte, ist unbekannt. Das britisch-brokered Abspringen des US-amerikanischen Waffenstillstandsgaranten im Konflikt mit dem Gründervater Woodrow Wilson (19. November 1919 und 19. März 1920) rechtfertigte die Auslegung von Verwaisung. Es kann davon ausgegangen werden, dass die weibliche Post zeitnah zu den Akten gelegt wurde. Politisches Handeln provozierte sie bekanntlich nicht. Vor dem Hintergrund der rasanten Entwicklungen im Heimatland der Autorin blieb sie ein aufschlussreiches Zeitdokument, das die Vereinten Nationen 2021 veröffentlichten und als Teil einer vernachlässigten Geschichte, die insgesamt zur Aufarbeitung des Kolonialismus gehört, verstanden werden soll. Zu dieser neuesten Entwicklung der Erinnerungskultur bekannte sich Ende 2020 der Leipziger Stadtrat. Zu unserem Debüt in den ortsansässigen Medien schwieg er bis heute.
Aus einer gutbürgerlichen Familie in Emden (Friesland) stammend, konnte Fanny Klinck ihrem Lebensstil als Schriftstellerin und politisch engagierte Journalistin nachgehen. Das hundert Jahre später vom Genfer Sitz der Vereinigten Nationen digital entschlüsselte Schriftstück der 76-Jährigen trägt die Notiz „Mitglied der deutschnationalen Volkspartei“ (DNVP), jener rechtskonservativen Partei in der Tradition der hoffnungslos entmachteten Monarchie, welche als Reaktion auf das Diktat den Putsch ihres Mitglieds Wolfgang Kapp unterstützte. Die Geschäftsstelle schaffte es nicht, den deutschen Namen richtig zu buchstabieren: Klincks. 1929 starb die widerstandsfähige Patriotin im Alter von 83 Jahren. Wie dem im gleichen Jahr verstorbenen, durch die Bekämpfung des dann zehn Jahre alten Diktates erschöpften Außenministers Gustav Stresemann, dem in der Erfolgsserie Babylon Berlin in den Mund gelegt wird: „Meine Friedensvermittlung zielt allein darauf ab, dass neue Vereinbarungen nicht mehr auf unserer moralischen Demütigung und der wirtschaftlichen Unterwerfung unseres Vaterlandes fußen“, blieb der Leipzigerin die Weltwirtschaftskrise als nächste, Deutschland unverhältnismäßig schwer treffende Entwicklungsstufe der „Urkatastrophe“ erspart.(4)
Nicht nur die Abgründe einer unverhältnismäßig belasteten jungen Republik, sondern auch die der etablierten Demokratien von damals und jetzt werden zur Mahnung sichtbar.
Aufgrund der Mainstream-Historiographie würde eine logische Frage lauten, warum der eloquente Protest aus Namen der Damen nicht (auch) Lloyd Georges Entente-Kollegen Georges Clemenceau oder Raymond Poincaré galt. Frankreich wäre doch das Sinnbild eines unversöhnlichen Revanchismus, dessen Vertreter auch nach Verlauf von Jahren nicht davon abließen, das Überleben der gemeinsam geächteten Weimarer Republik mit neuen Forderungen zu erschweren? Der Brief aus Leipzig ist ein individueller Nachweis dafür, dass dem Mainstream Narrativ eine weitgehende Ignoranz der Tatsachen zu Lasten gelegt werden kann. Nach den Worten einer Leserin unserer transnationalen Arbeit ist seiner Verfasserin auf der Schwelle eines zweiten Jahrhunderts eine postume Gerechtigkeit zuteilgeworden.
Janina Cymborski und Peter de Bourgraaf
Anmerkungen
1. United Nations Archives Geneva, L'Allemagne et les sanctions alliés - Fanny Klincks, Leipzig - Transmet un protestation, au nom des femmes allemandes, contre les sanctions ordonnées par les Puissances alliées, 2021, https://archives.ungeneva.org/lallemagne-et-les-sanctions-allies-fanny-klincks-leipzig-transmet-une-protestation-au-nom-des-femmes-allemandes-contre-les-sanctions-ordonnees-par-les-puissances-alliees.
2. Hans Poeschel. Die Kolonialfrage im Frieden von Versailles. Dokumente zu ihrer Behandlung (Berlin 1920), S. 130.
3. Durch einen britisch-britischen Coup am Beginn der Pariser Konferenz verdoppelte sich den anderen Delegationen gegenüber Englands Stärke. Zur British Imperial Delegation [Britische Reichsdelegation] unter der Führung von Jan Christiaan Smuts, siehe De Bourgraafs Hundert Jahre Urkatastrophe. Der Kolonialvertrag 1919, Göttingen: Cuvillier Verlag, 2018.
Derweil, im Osten.
Am 18. März 1921 unterzeichneten die Polnische Republik auf der einen Seite und die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (RSFSR) sowie die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik (USSR) auf der anderen Seite in Riga einen Friedensvertrag. In Deutschland wurde dieser Meilenstein der europäischen Nachkriegsordnung in seiner Bedeutung unterschätzt. Die Signatarstaaten erkannten unter anderem die Unabhängigkeit von „Belarus“ an. Ironischerweise durfte das Land keine Vertreter*innen an den Verhandlungstisch entsenden. Gleichzeitig wurden die mehrheitlich von Belarus*innen bewohnten Gebiete zwischen Polen und der späteren Sowjetunion in der Mitte geteilt.(1)
1. Quelle: Deutsche Gesellschaft für Osteuropa