«Alsace-Lorraine à l'envers»
Kein „illegaler Angriffskrieg“, sondern illegaler Angriff. Nach dem einseitig erschütternden, wohlgemerkt gegenseitig hinnehmbaren Waffenstillstandsabkommen vom 11. November 1918 waren auf den Tag genau fünfzig Monate vergangen.
Obwohl England unter Ausschluss der Deutschen in Paris einen höheren Anteil der Reparationszahlungen, deren Summe fast zwei Jahre nach Paris/Versailles fixiert werden sollte, als le Tigre abverlangte, besetzten dessen Truppen, unter denen viele Kolonialuntertanen (damalige Sprachverwendung), rechtsrheinische Teile der Weimarer Republik (Georges-Henri Soutou 🇫🇷, Peter de Bourgraaf 🇳🇱).
Die schwer drangsalierte Jungdemokratie war in eine problematische Lage der Ablösung geraten.
Am 24. November 2021 wurde in der Reihe „100 Jahre politischer Mord in Deutschland“ über das Thema „Die Besetzung des Rheinlands und die "schwarze Schmach"“ berichtet. In dieser Kooperation von Deutschlandfunk und dem Leibniz Zentrum für Zeitgeschichtliche Forschung in Potsdam spricht im Endeffekt sehr wenig für die These, den wachsenden „Argwohn gegen die Republik“ im Zusammenhang mit der „kolonialen“ Besetzung des Rheinlandes zu betrachten. Vor drei Jahren trat der diktierte Vertrag für Deutschland in Kraft, aufgrund dessen ein ausgewachsener, wenn auch vielfach unterschwelliger Argwohn entstanden war. Dem halfen Erfüllungsakteure wie eine sich kollaborativ gebende Republik keineswegs ab (Lauschen Sie bei unseren Berliner Kollegen aufmerksam der Rede des Reichskanzlers Joseph Wirth, 26.VI.1922). Am Ende des etwa siebenminütigen DLF/ZZF-Berichtes wird der Argwohn einzeln auf die „rassistische Propaganda“ zurückgeführt. Diese ist nach meiner Meinung nicht als Ursache, sondern Folge bzw. Kollateralschaden zu betrachten.
Das jüngst vergangene Jahrhundertgedenken 2018 – 2019, in dessen Sog des hundertsten Jahrestag der Rheinlandsbesetzung gedacht wird, war geprägt von einer „deutschzentrische“ Herangehensweise. Im Vergleich zum ordentlichen Gedenken der beiden Revolutionen schien kaum Raum vorhanden, um sich der übergeordneten Geschehnisse des Auswärtigen zu entsinnen. Dahingegen ist es historisch fragwürdig, Paris/Versailles in den Schatten Weimars zu stellen. Jetzt im zweiten Jahrhundert nach den Geschehnissen werden diese immer wieder analysiert, so als hätte Berlin oder Weimar uneingeschränkte Souveränität innegehabt. Ein Beitrag im jüngsten Heft der Bundeszentrale für Politische Bildung lässt sich unter diesem Blickwinkel betrachten: Lukas Haffert, Die Hyperinflation 1923 im kollektiven Gedächtnis, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Lizenz CC BY-NC-ND 3.0 DE
Die Reformation der Weltkriegsgeschichte. Eine Art rückwärtsgewandter Entnazifizierung
Unter dem Titel „Sachbücher zum Jahr 1923“ stellte Deutschlandfunk in einem Podcast neun Bände zum hundertsten Geburtstag des "Katastrophenjahres" vor. Deren Inhalte befinden sich in einer Kurzfassung auf derselben Webseite. Zum besseren Verständnis teilt der deutsche Historiker Florian Felix Weyh die neun Autoren in zwei Kategorien ein: Zum Einen die Journalisten und Sachbuchautoren (unter denen Jutta Hoffritz als einzige Frau) und zum Zweiten die Kollegen Historiker. Zum Ende des Interviews wurde Weyh die „gemeine Frage“ gestellt, welchen Band er lesen würde, wenn es für das Lesen mehrerer keine Zeit gäbe. Er nannte zwei Historiker (Volker Ullrich, Peter Longerich), die aus seiner Sicht „wirklich gewichtig“ sind. Dabei fällt der einzige nichtdeutsche Autor (Mark Jones, Historiker aus Dublin) aus der Bewertung heraus. Augenzwinkernd ergänzt der Deutsche seine Antwort wie folgt: er wünscht sich die Rückkehr eines verstorbenen Landsmannes herbei, dessen „goldener“ Ruf sich thematisch mit dem Zweiten Weltkrieg verknüpfte: Walter Kempowski. Der gebürtige Rostocker verfasste das kollektive Tagebuch "Echolot" (vierteilige Buchreihe, die als Collage aus Zitaten, Briefen, Tatsachenberichten zu 1939 - 1945 zusammengestellt ist). Eine entsprechend tiefgreifende Beschäftigung wünscht sich Weyh auch zum älteren Weltkrieg, wobei die oftmals ignorierte Inklusion des schicksalhaften Weimar/Paris/Versailles-Knäuels – aktuell 1923! – hier nicht namentlich genannt wird. „Gold versus Katzengold“, so bringt er kurz nach dem unvollständig begangenen Weltkriegsjahrhundertgedenken für 🇩🇪 den Vergleich der Historiographie zugunsten von Hitlers Krieg auf den Punkt. Vielleicht leuchtet dadurch mehr Menschen als zuvor die geschichtwissenschaftliche Schieflage ein, von der die Erinnerungskultur nicht ausgenommen werden kann. Folglich sind beide Bereiche gleichermaßen ausbaufähig. Anzumerken wäre zudem, dass sich keine Kultur oder Wissenschaft Europas auf einen besseren Stand befindet. Dieser Spiegel wurde dem ignoranten Europäer durch die hervorragenden Leistungen des United States World War One Centennial Commission vorgehalten.
🚩 Fazit: Im Deutschlandfunk hat - ansatzweise - der Ruf nach Neuem sowie andersartige Aufarbeitung geklungen.
📓 "Colonial Paradigms of Violence: Comparative Analysis of the Holocaust, Genocide, and Mass Killing." From its teaser text: The »coming home« of European colonialism ("as genocide on European soil," Hannah Arendt).
Non-Germans and Germans should be brought together in a commensurately transnational project in order to revise history writing and modernize historiography. Its composition should be distinguishable from many 2018/2019 centenary projects. For their conceptualisation, it was not at all helpful that either side of the Great War belligerents were represented without comprising any input of the third camp. At that time, the neutrals played an important role. The project should include experts from countries such as Spain, 🇸🇪, 🇨🇭 and the Netherlands.
© By Peter de Bourgraaf. Edited by Peter Finke