Total postkolonial

04-10-2021

„Weiße Dekolonisation“. Ein Porträt Weimars als ersten postkolonialen Staates

In Genf beginnt die wortwörtlich internationalisierte Verwaltung der überseeischen Gebiete Deutschlands. Wie im Pariser Winter von 1919 übernehmen die britischen Vertreter plus die Funktionäre, die aus der überraschenden Erscheinung einer British Imperial Delegation (Britischen Reichsdelegation) hervorgegangen sind, nach wie vor die Hauptrolle in der neuen Institution der Permanent Mandates Commission (Permanente Mandatskommission).

Ganz andere Auslegung, als Sie gewohnt sind?

Viele nicht-Deutsche kritisierten den der Neugründung der Weimarer Republik diktierten Vertrag von Versailles. Deren Hoffnung war wie die vom britisch-südafrikanischen Kolonialdelegationsleiter Jan Christiaan Smuts in Paris, dass die Kritiker durch das ebenfalls neu geschaffene Instrument des Völkerbundes zur Berichtigung des Diktats für die Nachkriegsordnung beitragen würden. Folgerichtig kritisch wie das zurückgetretene Delegationsmitglied John Maynard Keynes, der mit Smuts einen Briefwechsel unterhielt, oder der wegen des Diktats zurückgetretene erste Ministerpräsident von Weimar Philipp Scheidemann, zeigten sich weder Smuts als einer der Waffenstillstandsbedingungen ignorierenden Urheber des Vertragsentwurfes, noch seine „Mitstreiter“ von Weimar bis Washington. Ausführungen zur ebenfalls berechtigten Imperialismuskritik eines Wladimir Lenins werden hier wegen dessen unmittelbarer Verantwortung für Zehntausende Todesopfer der Nachkriegsordnung außer Acht gelassen.

Hypokritische Verneinung der offenkundig gewaltsamen und niederträchtigen Potenz des Vertragsdiktats würde selbstverständlich nicht dazu führen, Radikalisierung von Potentaten und Diktatoren zu vorbeugen.

Fakt 1. Als Folge der sofort anlaufenden „Kolonisierung“ der Pariser Konferenz von 1919 wurde das heimlich geänderte Konzept eines Völkerbundes in den insgesamt diktierten Friedensvertrag integriert. Vor den drei Verlängerungen des Waffenstillstandes lag der Konsens vor, den erwartungsgemäß harten Friedensvertrag und die internationale Neugründung auf unterschiedlichen Konferenzen zustande zu bringen.

Fakt 2. Drei Monate nach den vorgezogenen Beratungen zur Kolonialfrage und zu dem daran verknüpften Völkerbundsentwurf wurde der Delegation der Weimarer Republik der Vertragsentwurf vorgelegt. Dieser enthielt die „Kolonialschuldlüge“, die dann von unter anderem den Bestimmungen der Reparationsfragen überschattet wurde. Juni 1919: In der letzten Woche der Konferenz wurde den Deutschen die Alleinschuld am Weltkrieg angelastet. Während das Kolonialdiktat auf den weiteren Verlauf der Konferenz unentwegt Einfluss nahm, wurde dessen lügnerische Begründung bis dato von der bekannten Kriegsschuldfrage bzw. Schuldlüge überschattet.

In Deutschland wusste bis vor zwanzig Jahren kaum irgendwer, dass es einmal deutsche Kolonien gegeben hat. 2021 tobt weltweit die postkoloniale Debatte, die ihrerseits vor allem in Deutschland verhindert, dass sich ein Publikum für den Pariser-Weimarer Bestandteil der Kolonialgeschichte findet. Auch unter Wissenschaftlern erfreut sich das Thema aus dem Pariser Winter 1919 keiner Beliebtheit.

Fakt 3. Am 4. Oktober 1921 war der Vertrag von Versailles seit 21 Monaten in Kraft. Die Neuigkeit war, dass die Permanent Mandates Commission (siehe unten) zum ersten Mal zusammentrat. Diese Ständige Mandatskommission des Völkerbundes tagte vom 4. bis zum 8. Oktober in Genf. Großbritannien stellte in der Person von Eric Drummond den Generalsekretär. Diese Bundeskommission sollte in seiner Wirkung praktisch darstellen, dass die Zivilisierungsmission der portugiesischen, belgischen, französischen, englischen, britisch-neuseeländischen, britisch-südafrikanischen und britisch-australischen samt der japanischen Mitglieder weiterhin unter Beachtung einer anständigen Behandlung der Kolonisierten und zum ersten Mal unter Anwendung von Ausschlusskriterien gelang. Die Anwendung dieser neuartigen Kriterien, bei deren Einführung der Eroberer von Deutsch-Südwestafrika Smuts eine entscheidende Rolle spielte, hatte auf der Konferenz von Paris zu einer „weißen“ und daher negativen Entkolonisierung Deutschlands geführt. Smuts und seine Kolonialherren in London vereinten am Ende Wilsons Vereinigte Staaten, 25 alliierte Staaten und vier weitere der Kolonien Großbritanniens auf diese Formel, die gut zwei Jahre später den Anfängen der PMC zugrunde lag. Als im ersten Jahr der Nachkriegsordnung mehr als zehn weitere Staaten der internationalen Organisation beitraten, waren selbstverständlich auch die Kolonialstaaten wie Südafrika gehalten, eine Mission hochzuhalten, für die sich der Deutsche als unfähig erwiesen hätte.

So wurde in Paris die Nachkriegsordnung von Briten zwischen Neuseeland, Paris und London aufgebaut. Im Vorort Versailles stellte sie der französische Gastgeber in den Schatten, was den Herren heimlich gefiel. Eine ungenügend erforschte Frage ist, dass keine Demokratie bzw. keine Demokraten es schafften, dieser Sachlage Einhalt zu gebieten.

Einige Quellen:

Hat sich außer Keynes einer der verantwortlichen Politiker bzw. Delegationsmitglieder Englands vor Augen geführt, was für Auswirkungen diese Moral auf die europäische Kolonialherrschaft haben würde? Diese Auswirkungen waren aus Sicht der Legitimierung des Imperialismus und Kolonialismus und der kolonisierten Bevölkerungen, von denen einige hautnah die vollständige Erniedrigung der Herren aus Deutschland durch andere Europäer erlebten, im inneren Widerspruch dermaßen kontraproduktiv, dass sich gar ein Kamikazepilot wie dem Diktat entsprungener Diktator Adolf Hitler zu keinerlei Zeitpunkt ernsthaft überlegte, den deutschen „Platz unter der Sonne“ wiederherzustellen. Wichtiger ist, festzuhalten, dass seine Erscheinung und ungeheure Machtentfaltung an sich in dieser Lage begründet war. Als Teil eines gut verschwiegenen Vernichtungsplan zur deutschen Existenz in Übersee kaperten die britischen Delegation in Paris neunzig Prozent der deutschen Handelsflotte. Nach dieser erheblichen Verletzung des Waffenstillstandes vom November 1918 wollten die unter dessen Bedingungen in nördlichen Gewässern Großbritanniens internierte Besatzung der deutschen Kriegsflotte nicht, dass sich der übergriffige Waffenstillstandspartner auch ihrer Schiffe bemächtigte. In Unkenntnis der Entwicklungen in Paris und der sonstigen Welt, weil die Engländer jeden Kontakt nach außen untersagten, wurde die Flotte am 21. Juni 1919 auf Weisung der Befehlshaber abgesunken.

Zwei Jahre später wurde der Friedenspolitiker Matthias Erzberger im Schwarzwald ermordet. Verantwortlich für diesen Mord wurden zwei Angehörige der vernichteten Flotte gehalten.

Wen wundert es, dass die Permanente Mandats-Kommission von sich aus nicht kritisch genug war, Grundlagen zu erstellen, mit denen sie sich eventuellen Vorwürfe der Heuchelei hätte stellen können. Die neutralen (Mitglied-)Staaten hätten eine Debatte über die kolonial-humanitäre Schieflage theoretisch salonfähig machen können. Doch die Neutralität stand nicht selten unter Druck immer wieder übergriffiger Briten. Die Niederlande sahen sich, wenn nicht durch das Asyl des zurückgetretenen Kaisers Deutschlands, durch die belgischen Ansprüchen auf ihr Hoheitsgebiet in Mitleidenschaft gezogen. Liesen Sie im oben angezeigten Buch De Bourgraafs, wie ein britisches Übergehen des schwer kriegsgeschädigten Belgiens dazu führte. Das ebenfalls neutrale Spanien wurde während des Krieges von London aufgefordert, Asylanten der deutschen Nachbarkolonie Kamerun auszuliefern. Viereinhalb Jahre nach der deutschen Verletzung der Neutralität Belgiens kann es deutlichere Beispiele der Neutralitätsverletzung, diesmal nicht nur während des Krieges, sondern auch im Waffenstillstand, nicht geben. Die mehrsprachige Schweiz sah zum größten Teil verwundert zu, was sich um den hierzulande einzurichtenden Sitz der neuen Organisation entwickelte, den viele in diesem neutralen Land als „Bund von Versailles“ bezeichnen würde. Was hätte das schwedische Mitglied dem gerade vergrößerten Weltreich der Briten samt dessen siegreichen Subimperialisten gegenüberstellen sollen?

Englands antieuropäische Brexitpolitik macht alte als gefährlich einzustufende Muster erkennbar. Mehr noch als durch das Austreten aus der Europäischen Union wird die Aufa100 durch seine Absage an der europäischen Bewegung ermutigt, ihr Ziel einer Erneuerung der Geschichtsschreibung voranzutreiben.



Primärliteratur


On 5 October 2021, the Université de Lausanne announced "Centenary of the International Committee on Intellectual Cooperation of the League of Nations", May 2022 to be held in the Palais des Nations, headquarters of the former League. Why were there no Centenaire events on the PMC?

Was bedeutet Alsace-Lorraine à l'envers outre-mer?

In der Übersetzung bedeutet es „Umgekehrtes Elsass-Lothringen in Übersee“. In der Auslegung werden drei Stufen geschichtlicher Entwicklung erkennbar. Der Ausgangspunkt ist, dass Elsass-Lothringen, das französisch-deutsche Grenzgebiet auf dem linken Rheinufer, immer wieder zwischen Berlin und Paris die Staatshoheit gewechselt hat. Daher verkörpert das Gebiet, das mehrheitlich deutschsprachig war, den Revanchismus zwischen den Erbfeinden 🇫🇷 und Deutschland. So wurde es vor etwas mehr als hundert Jahren an Frankreich angegliedert. In der Geschichtsschreibung findet sich die Auffassung, dass Frankreich seit dem heute 150 Jahre alten Deutsch-Französischen Krieg von 1870-1871, als das Gebiet an das neu geschaffene Deutsche Reich angegliedert wurde, wegen ebendiesem Kern des historischen Konigreichs Lothars erneut in den Krieg ziehen würde. Mitten im aussichtslosen Grabenkrieg von 1914-1918 wurde den französischen Soldaten besonders stark die Durchhalteparole „Elsass-Lothringen“ vorgehalten. Bekanntlich fanden Hunderttausende an der meistens erstarrten Front den Tod. Zu den harten Waffenstillstandsbedingungen vom November 1918 gehörte, dass das Gebiet an Frankreich zurückgegeben werden musste, was mit sofortiger Wirkung umgesetzt wurde.






Auf der Konferenz von Paris gab sich Frankreich unter der Leitung von Delegationsleiter Georges Clemenceau (Januar - Juni 1919) damit nicht zufrieden. Wohlgemerkt zu Zeiten des Waffenstillstandes marschierten alliierte Truppen in das niedere Rheinland nördlich von Elsass-Lothringens ein. Anders als die Belgier und Engländer wollte Frankreich dieses entsprechend „verdoppelte“ Rheinland dauerhaft besetzen. So schuf es en passant weit mehr als eine territoriale Begründung für den Revanchismus und Revisionismus, was als ein „Alsace-Lorraine à l'envers“ bzw. ein umgekehrtes Elsass-Lothringen verstanden werden kann.

Dieser spiegelbildlichen Vorstellung des Revisionismus entlang der nördlichen Grenze Elsass-Lothringens war die Schaffung der dritten Stufe dieses Gedankenstranges, welche am wenigsten bekannt ist, unmittelbar vorangegangen. Ebenfalls während des Waffenstillstandes stellte sich die Britische Delegation zu Paris, zur der sich überraschend eine Britische Reichsdelegation (British Empire Delegation, eine zweite Delegation unter dem Union Jack) gesellte, heimlich gegen die Waffenstillstandsbedingungen, allen voran Punkt Fünf und Vierzehn gemäß des Vierzehn-Punkte-Programmes des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Formal konnten die deutschen Kolonien eben wegen dieses Ausgangspunktes nicht annektiert werden. Auf Bestreben dieses unerlässlichen Partners wurde eine Annektierung des deutschen Kolonialreiches ausgesetzt. London brauchte Wilson mehr als die kolonialen Nationalisten in der Südsee und Südafrikas. Kurz gefasst, die Lösung der überraschend vorgezogenen Kolonialfrage führte auf die britischen Kolonialvertretung zurück, deren jeweilige Abgeordnete das Ziel der staatlichen Selbständigkeit viel wichtiger war als jegliche Einzelheiten des Waffenstillstandes oder dessen Geist. Alle Teile des folglich aufgelösten Kolonialreiches Deutschlands sollten unter dem Schutz des noch nicht existierenden Völkerbundes verwaltet werden. Heimlich bemächtigten die Briten sich des Großteils der deutschen Kolonien. Über diese fielen nicht nur sie, sondern insgesamt fünf Staaten und drei britische Kolonien her. Zu diesen sieben Beauftragten (Mandatory Powers) des gleichzeitig gegründeten Völkerbundes und dem unmittelbar annektierenden Mitglied Portugal, einer Ausnahme, könnte eigens diese internationale organisation, die unter britischer Leitung stand, insbesondere aus deutscher Perspektive hinzugezählt werden. In Genf nahm deren Permanent Mandates Commission (Ständige Mandatskommission), der weiterhin die Verwaltung der eroberten Gebiete des Osmanischen Reiches unterstand, am 4. Oktober 1921 ihre Tätigkeiten auf.

In „Hundert Jahre Urkatastrophe. Der Kolonialvertrag 1919“ entwickelte Peter de Bourgraaf aus transnationaler Perspektive die These, dass die Grundlagen eines deutschen Revanchismus bzw. Revisionismus durch den kolonialen Irredentismus eines „umgekehrtes Elsass-Lothringen in Übersee“ weiterhin erstarkt wurden. Zusätzlich kommt dazu das Argument, dass die verlorenen Gebiete in Asien und Afrika bzw. der verlorene Status eines Mutterlandes für die neue deutsche Republik mindestens so viel Unheil nach sich ziehen könnte, wie die Besetzung linksrheinischer Länder. Wir wissen, dass es nicht nur den Deutschen, sondern auch dem Europäer von Ost bis West zum Verhängnis werden sollte. Im Gegensatz zum wenige Monate später erwirkten „Elsass in Übersee“ wechselte Elsass-Lothringen unter den Bedingungen eines gegenseitig vereinbarten Waffenstillstandes die Seiten.


* Georges-Henri Soutou, La grande illusion. Comment la France a perdu la paix 1914-1920, Paris 2015, S. 303, 312, 317. Siehe auch „George Clemenceau ou la vraie figure du Tigre.“ In: Sud Ouest, 23. Oktober 2017.