Total postkolonial. Ausgenommen den Kolonisierten
Anderthalb Jahre nach der Inkraftsetzung des Vertrages und „Bundes von Versailles“ begann in Genf, dem Standort der neuen Organisation, die wortwörtlich internationalisierte Verwaltung der überseeischen Gebiete Deutschlands. Wie auch zu Beginn der Pariser Friedenskonferenz 1919, beanspruchten Großbritanniens Politiker, welche sich eines Landsmannes in der Rolle des ersten Generalsekretärs erfreuten, die Hauptrolle der Permanent Mandates Commission (PMC, Ständige Mandatskommission). Aus welchem Grund mangelte diese an Legitimation?
Als im Januar die Konferenz von Paris eröffnet wurde, standen nicht, wie zunächst vorgesehen, Europas eigene Themen im Vordergrund, sondern der außereuropäische Bereich. Im Schatten der planmäßigen Eröffnung mit Woodrow Wilsons Bund setzten Großbritanniens zwei Delegationen, eine unter der Leitung von Lloyd George und die andere unter dessen Kolonialhelden Jan Christiaan Smuts, die Priorisierung der Kolonialfrage durch. Einige Monate später wurde der Vertragsentwurf vorgelegt. Daraus ließ sich erst die einseitig britische Lösung der Frage erschließen. Erstens erschien diese aus analytischer Sicht als ein grober Gegensatz zu Punkt Fünf von Wilsons Programm, dem bekanntlich das Waffenstillstandsabkommen zugrunde lag. Dies bedeutete dessen offenkundige Mißachtung. Dadurch wurde es unvermeidlich, dass den Briten – und ihren Selbständigkeit beanspruchenden Kolonisten unter Smuts' Leitung – des Präsidenten Steckenpferd im Weg stand. Wie sie sich aus dieser Zwickmühle befreiten, wird an anderer Stelle dieses Sammelbandes auseinandergesetzt. Auf jeden Fall würde sich Wilson weitgehende Zugeständnisse abringen lassen. Aus britischer Sicht konnte der unerläßliche Amerikaner nicht rücksichtslos übergangen werden, da der Hilfestellung seiner Truppen der überraschend günstige Ausgang des Krieges zu verdanken war. Er drohte einerseits, die Konferenz auf einen Ort außerhalb Frankreichs zu verlegen und andererseits, persönlich Paris zu verlassen. Mitte Februar kehrte er nach Washington zurück, um einen Monat später zum zweiten und letzten Mal in Europa zu landen. Am Ende seiner insgesamt fünfeinhalb monatiger Abwesenheit von zuhause unterschrieb er den Vertrag von Versailles. Nach der Rückkehr in die Heimat, als seine Kampagne zur Ratifizierung des Bundes und Vertrags lief, brach er körperlich zusammen. In dem Zustand erlebe er auch die letzte Konsequenz seiner doppeldeutigen Zugeständnisse an die Briten und deren Selbständigkeit beanspruchenden Kolonisten. In einem zweimal abgehaltenen Abstimmungverfahren entschieden sich die Vereinigten Staaten gegen den Bund und Vertrag. Die Imperialisten begrüßten zusammen mit den Subimperialisten heimlich ihren Sieg gegen den hypokritischen Internationalisten.
Die britisch-kolonial diktierte Nachkriegsordnung wurde nicht nur von Millionen in der neu gegründeten Deutschen Republik kritisiert. Wegen der Republik unverhältnismäßig belastenden Inhalte trat Ministerpräsident Philip Scheidemann, einer der Gründerväter, zurück. Im Entwurf wurde den Deutschen im Kolonialbereich Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. In der Woche nach Scheidemanns Ausscheiden kam zu dieser Kolonialschuldlüge, wie die britisch vermittelte Lösung der Kolonialfrage besonders in Deutschland bezeichnet wurde, die weitbekannte Schuldlüge zum Kriegsausbruch hinzu. Diese spätere der beiden Schuldzuweisungen, welche Deutschland während der einwöchigen Verlängerung bis zum Schlussakt attestiert wurde, sollte John Maynard Keynes in dessen Entscheidung zum Rücktritt aus der Delegation bekräftigt haben. In der Gewissensfrage ging der britische Wirtschaftsbeauftragte dem deutschen Sozialdemokraten voraus. Mit dem anstehenden Bestsellerautor zum Bund und Vertrag verlor diese Delegation wohl das einzige Mitglied mit Deutschkenntnissen.
Statt seiner Entrüstung Folge zu leisten und sich den konsequenten Kritikern beider Lager anzuschließen, unterschrieb am 28. Juni 1919 Smuts. Die Hoffnung des britisch-südafrikanischen Leiters der British Imperial Delegation war, dass die Kritiker durch das neu geschaffene Instrument des Völkerbundes zur Korrektur und Besänftigung des Diktats beitragen würden. Mittel- und langfristige Ereignisse sowie Entwicklungen zeigten anschließend auf, dass diese als durchaus eitel verstanden werden sollte. Ausführungen zu Wladimir Lenins ebenfalls berechtigter Kritik am Imperialismus werden hier, aufgrund dessen persönlicher Verantwortung an zehntausendfachem Mord an Bürgern während der zeitgleich laufenden Revolution außer Acht gelassen.
Nach der Pause von Wilson und seinem englischen Kollegen bemühte sich der französische Gastgeber erfolgreich darum, dem Vorbild des Ententepartners und dessen nationalistischer Kolonisten zu folgen. George Clemenceau erhöhte sukzessiv seine Ansprüche an Deutschland. Das schlussendliche Diktat am grundlegend transformierenden Land kam aus der Feder der etablierten Demokratien samt Englands Subimperialisten.
Kritiker wie Keynes und Scheidemann, denen der südafrikanische Schützling von Lloyd George theoretisch zugeordnet werden könnte, waren sich bewusst, dass eine Verneinung der kollektiv niederträchtigen und offenkundig gewaltsamen Potenz des Friedensdiktats nicht dazu führen würde, einer ensprechenden Radikalisierung, bis hin zum Aufkommen von revanchistischen Potentaten oder Diktatoren, wirksam entgegenzuwirken. Zum hundertsten Jahrestag der Ständigen Mandatskommission stellte sich die Frage, ob es ihr gelang, trotz der Lüge des Kolonialdiktats, welche von der nachträglichen Schuldzuweisung überlagert wurde, eigenständig erwirkte Existenzberechtigung nachzuweisen. Ohne in der Recherche zum potenziell interessanten Thema für den postkolonialen Diskurs Vollständigkeit zu beanspruchen, werden hier lediglich zwei Argumente zur Fehlanzeige zusammengetragen.
1. Als Konsequenz der sofort anlaufenden "Kolonisierung" der Pariser Konferenz, welche von beiden britischen Delegationen geschlossen vorangetrieben wurde, wurde das heimlich geänderte Konzept eines Völkerbundes in den diktierten Friedensvertrag integriert. Rundum das Waffenstillstandsabkommen vom November 1918 lag allerdings der Konsens vor, den erwartungsgemäß harten Friedensvertrag und die internationale Neugründung nach dem Programm Woodrow Wilsons, auf dessen Grundlage das Abkommen überhaupt zustande kam, auf unterschiedlichen Konferenzen zustande zu bringen.
Aus beiden Delegationen entsprang daraufhin eine besonders einseitige Lösung der Kolonialfrage. Zur notwendigen Vermeidung von Annektierungen auf Kosten Deutschlands, siehe Waffenstillstandsabkommen, sollten die fast gänzlich eroberten Gebiete in die Obhut von Wilsons internationaler Organisation überführt werden. So kam es dazu, dass getrennt betrachtete Konzepte zur Sicherung einer nachhaltigen Nachkriegsordnung, insbesondere der Bund und Vertrag, verbunden wurden.
2. Als die Ständige Mandatskommission des Völkerbundes vom 4. bis zum 8. Oktober in Genf ihre erste Tagung veranstaltete, war die Versailler Nachkriegsordnung 21 Monate alt. In der Person von Eric Drummond wurde der Posten des Generalsekretärs von Großbritannien besetzt. Dem britischen Haupt war der Schweizer Professor W.E. Rappard als Direktor der Mandatsabteilung unterstellt. Diese Bundeskommission sollte die sachgemäß exklusive Zivilisierungsmission (zeitgemäße Begrifflichkeit) der portugiesischen, belgischen, französischen, englischen, britisch-neuseeländischen, britisch-südafrikanischen und britisch-australischen samt japanischer Mitglieder gerecht werden. Das Interesse der kolonisierten Bevölkerung sollte unter der Obhut dieser Mitglieder und dem Dreigespann britischer Kolonien gewährleistet sein. Da das Deutsche Reich derselben gegenüber des Verbrechens beschuldigt war, welches als Hauptargument zur Auflösung seines Kolonialreiches vorgebracht wurde, kam es zu einer weißen Entkolonisierung dieses Juniorpartners im Imperialismus. Von historiographischer Bedeutung hierbei ist, dass erst später die Begrifflichkeit der Entkolonisierung geprägt wurde. Als die PMC ihre Tätigkeiten aufnahm, stand wortwörtlich das Interesse und Wohlbefinden der Asiaten und Afrikaner, welche sich die Ablösung durch vornehmlich britische Herren herbeigewünscht hätten, im Vordergrund. Mit dem Vertrag und Bund wurde der Deutsche mit der Begründung, er habe sich als unfähig erwiesen, von der Zivilisierungsmission ausgeschlossen.
Im Angesicht des Höhepunkts des Entente-Imperialismus und der Ereignisse nachfolgender Jahrzehnte lag nahe, dass sich keiner der verantwortlichen Politiker bzw. Delegationsmitglieder Englands vor Augen geführt hatte, welche Folgen dieses Konstrukt auf die europäische Kolonialherrschaft bzw. den Hochimperialismus haben würde. Ab 1919, bzw. 1921, vermehrten sich die Legitimierungsfragen von oben und unten. Aus Sicht der kolonisierten Bevölkerungen, von denen einige hautnah die britische Erniedrigung ihrer Herren erlebten, delegitimierte sich der Europäer von innen heraus. Daher ließ sich sich das Kolonialdiktat von Versailles samt der Mandatskommission des Bundes als kontraproduktiv betrachten. Zu keinem Zeitpunkt sollte sich der dem Diktat entsprungene Diktator ernsthaft überlegen, des Reiches „Platz an der Sonne“ wiederherzustellen. Bedeutender ist die Tatsache, dass das Aufkommen Adolf Hitlers oder auch seinesgleichen aus der Aufrechterhaltung bzw. weiteren Institutionalisierung einer zutiefst ungerechten Nachkriegsordnung entsprang. Als Teil eines gut getarnten Vernichtungswillens zur deutschen Existenz in Übersee übernahmen die angloamerikanischen Delegationen in Paris bis auf zehn Prozent die deutsche Handelsflotte. Nach dieser erheblichen Verletzung des Waffenstillstandsabkommens versuchte die, unter dessen Bedingungen in nördlichen Gewässern Großbritanniens internierte Besatzung der Kriegsflotte zu vermeiden, dass sich der übergriffige Waffenstillstandspartner zusätzlich ihrer mehr als siebzig Schiffe bemächtigte. In Unkenntnis der Entwicklungen in Paris und der sonstigen Welt, da ihrer Besatzung von den britischen Bewachern jeder Kontakt nach außen untersagt war, wurde die gesamte Flotte am 21. Juni 1919 auf Weisung des Admirals von Reuther versenkt.
Ein paar Tage vor dem Antritt der Ständigen Mandatskommission wurde der deutsche Friedenspolitiker Matthias Erzberger im Schwarzwald ermordet. Das tragische Verbrechen wurde von zwei Angehörigen der kampflos untergegangen Hochseeflotte begangen.
Nicht zu übersehen ist der Zusammenhang zwischen der Kolonial- und maritimen Fragen. Die neue Kommission agierte von sich aus nicht kritisch genug darin, neue Grundlagen einzuführen, mit denen sie sich den zunehmenden Legitimationsfragen hätte stellen können. Seitens der neutralen Mitgliedstaaten, mit welchen der Bund von Versailles im ersten Vertragsjahr erweitert wurde, hätte eine Debatte über die kolonial-humanitäre Schieflage angestoßen werden können. Jedoch stand die Neutralität häufig unter Druck übergriffiger Briten, sowie davon, dass die Organisation von ihnen geleitet wurde.
Primärliteratur
Punktgenau zum Zentenarium der Mandatskommission kündigte die Universität von Lausanne die Konferenz Centenary of the International Committee on Intellectual Cooperation of the League of Nations an. Aufa100 gelang es nicht, festzustellen, dass anderenorts das Zentenarium der älteren Kommission in Erinnerung gebracht wurde.
Was bedeutet Alsace-Lorraine à l'envers outre-mer?
In der Übersetzung bedeutet es „Umgekehrtes Elsass-Lothringen in Übersee“. In der Auslegung werden drei Stufen geschichtlicher Entwicklung erkennbar. Der Ausgangspunkt ist, dass Elsass-Lothringen, das französisch-deutsche Grenzgebiet auf dem linken Rheinufer, immer wieder zwischen Berlin und Paris die Staatshoheit gewechselt hat. Daher verkörpert das Gebiet, das mehrheitlich deutschsprachig war, den Revanchismus zwischen den Erbfeinden 🇫🇷 und Deutschland. So wurde es vor etwas mehr als hundert Jahren an Frankreich angegliedert. In der Geschichtsschreibung findet sich die Auffassung, dass Frankreich seit dem heute 150 Jahre alten Deutsch-Französischen Krieg von 1870-1871, als das Gebiet an das neu geschaffene Deutsche Reich angegliedert wurde, wegen ebendiesem Kern des historischen Konigreichs Lothars erneut in den Krieg ziehen würde. Mitten im aussichtslosen Grabenkrieg von 1914-1918 wurde den französischen Soldaten besonders stark die Durchhalteparole „Elsass-Lothringen“ vorgehalten. Bekanntlich fanden Hunderttausende an der meistens erstarrten Front den Tod. Zu den harten Waffenstillstandsbedingungen vom November 1918 gehörte, dass das Gebiet an Frankreich zurückgegeben werden musste, was mit sofortiger Wirkung umgesetzt wurde.
Auf der Konferenz von Paris gab sich Frankreich unter der Leitung von Delegationsleiter Georges Clemenceau (Januar - Juni 1919) damit nicht zufrieden. Wohlgemerkt zu Zeiten des Waffenstillstandes marschierten alliierte Truppen in das niedere Rheinland nördlich von Elsass-Lothringens ein. Anders als die Belgier und Engländer wollte Frankreich dieses entsprechend „verdoppelte“ Rheinland dauerhaft besetzen. So schuf es en passant weit mehr als eine territoriale Begründung für den Revanchismus und Revisionismus, was als ein „Alsace-Lorraine à l'envers“ bzw. ein umgekehrtes Elsass-Lothringen verstanden werden kann.
Dieser spiegelbildlichen Vorstellung des Revisionismus entlang der nördlichen Grenze Elsass-Lothringens war die Schaffung der dritten Stufe dieses Gedankenstranges, welche am wenigsten bekannt ist, unmittelbar vorangegangen. Ebenfalls während des Waffenstillstandes stellte sich die Britische Delegation zu Paris, zur der sich überraschend eine Britische Reichsdelegation (British Empire Delegation, eine zweite Delegation unter dem Union Jack) gesellte, heimlich gegen die Waffenstillstandsbedingungen, allen voran Punkt Fünf und Vierzehn gemäß des Vierzehn-Punkte-Programmes des amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson. Formal konnten die deutschen Kolonien eben wegen dieses Ausgangspunktes nicht annektiert werden. Auf Bestreben dieses unerlässlichen Partners wurde eine Annektierung des deutschen Kolonialreiches ausgesetzt. London brauchte Wilson mehr als die kolonialen Nationalisten in der Südsee und Südafrikas. Kurz gefasst, die Lösung der überraschend vorgezogenen Kolonialfrage führte auf die britischen Kolonialvertretung zurück, deren jeweilige Abgeordnete das Ziel der staatlichen Selbständigkeit viel wichtiger war als jegliche Einzelheiten des Waffenstillstandes oder dessen Geist. Alle Teile des folglich aufgelösten Kolonialreiches Deutschlands sollten unter dem Schutz des noch nicht existierenden Völkerbundes verwaltet werden. Heimlich bemächtigten die Briten sich des Großteils der deutschen Kolonien. Über diese fielen nicht nur sie, sondern insgesamt fünf Staaten und drei britische Kolonien her. Zu diesen sieben Beauftragten (Mandatory Powers) des gleichzeitig gegründeten Völkerbundes und dem unmittelbar annektierenden Mitglied Portugal, einer Ausnahme, könnte eigens diese internationale organisation, die unter britischer Leitung stand, insbesondere aus deutscher Perspektive hinzugezählt werden. In Genf nahm deren Permanent Mandates Commission (Ständige Mandatskommission), der weiterhin die Verwaltung der eroberten Gebiete des Osmanischen Reiches unterstand, am 4. Oktober 1921 ihre Tätigkeiten auf.
In „Hundert Jahre Urkatastrophe. Der Kolonialvertrag 1919“ entwickelte Peter de Bourgraaf aus transnationaler Perspektive die These, dass die Grundlagen eines deutschen Revanchismus bzw. Revisionismus durch den kolonialen Irredentismus eines „umgekehrtes Elsass-Lothringen in Übersee“ weiterhin erstarkt wurden. Zusätzlich kommt dazu das Argument, dass die verlorenen Gebiete in Asien und Afrika bzw. der verlorene Status eines Mutterlandes für die neue deutsche Republik mindestens so viel Unheil nach sich ziehen könnte, wie die Besetzung linksrheinischer Länder. Wir wissen, dass es nicht nur den Deutschen, sondern auch dem Europäer von Ost bis West zum Verhängnis werden sollte. Im Gegensatz zum wenige Monate später erwirkten „Elsass in Übersee“ wechselte Elsass-Lothringen unter den Bedingungen eines gegenseitig vereinbarten Waffenstillstandes die Seiten.
* Georges-Henri Soutou, La grande illusion. Comment la France a perdu la paix 1914-1920, Paris 2015, S. 303, 312, 317. Siehe auch „George Clemenceau ou la vraie figure du Tigre.“ In: Sud Ouest, 23. Oktober 2017.