Weimar und Versailles, kann man das trennen? Interview mit Prof. Philipp Austermann
Anlässlich des 2020 erschienenen Buches von Professor Philipp Austermann „Der Weimarer Reichstag: Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments“ hatte Aufa100 das Vergnügen, den Autor und Dozenten für Staatsrecht, Politik und Geschichte Deutschlands und Europas an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung zu einem exklusiven Interview einzuladen. Am 23. August, Vorabend des Jahrhundertgedenkens an Matthias Erzberger, stand das Thema „politische Gewalt“ der Weimarer Republik zur Debatte, der damit verbundene zeitgeschichtliche Diskurs, und speziell im Hinblick auf den Versailler Vertrag, inwieweit dieser Einfluss auf die Entwicklung der Republik hatte. Es ist uns eine Ehre, mit Herrn Austermann zu sprechen, und wir begrüßen ihn noch einmal herzlich:
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Professor Philipp Austermann
Sie meinen also wie eine Demokratie fähig ist auf ihre Feinde einzuwirken?
Wenn Sie auf die Demokratien anspielen, Frankreich und Großbritannien, das hat natürlich die Hingabe für die Demokratie in Deutschland nicht unbedingt befördert, dass Staaten wie Frankreich und Großbritannien das Ganze mittragen und die Demokraten so einen Friedensvertrag geschlossen haben. Wobei man eben sagen muss, die haben den nicht als Demokraten geschlossen, sondern die haben den, insbesondere die Franzosen, als Opfer dieses Krieges geschlossen. Sie haben Recht, es hat eine gewisse Wirkung gehabt, es hat die politische Lage belastet, hat auch die Demokratie als solche auch nicht sympathischer gemacht, aber ich glaube, was problematischer war für die Demokratie, war die Tatsache, dass sie in den Augen vieler als Ergebnis eines Verrats, oder als Ergebnis einer Niederlage entstanden ist. Das war, glaube ich, das größere Problem. Das viele gerade rechtsgerichtete Kreise sagen konnten, das ist doch nicht eine von den Deutschen gewollte Staatsform, sondern die haben wir ja nur also Folge einer Revolution bekommen. Sie ist eigentlich "schmutzig". Das war ein ganz großes Problem.
Professor Philipp Austermann
Ich habe mir Ihre Arbeit ein bisschen angeschaut, und was mir aufgefallen ist, und da haben Sie Recht, und da knüpfe ich gleich mal an Ihre Vorbemerkung kurz an, Sie haben Recht, das Gedenken zum zweiten Weltkrieg und das Gedenken zum ersten Weltkrieg sind zwei völlig unterschiedliche Sachen. Das liegt vielleicht auch daran, dass das eine heutzutage als prägender empfunden wird als das andere. Der zweite Weltkrieg ist, für Deutsche insbesondere wichtig, völlig klar. Das ist bei Weimar anders. Weimar wird immer als Vorläufer zu etwas, als Vorgeschichte zu etwas, als Auslöser für etwas betrachtet. Es hat wenig eigenständige Bedeutung bekommen. Kann man Versailles und Weimar trennen? Das ist eine sehr sehr interessante Frage, und ich meine Nein.
Man kann zwar Versailles und Weimar begrifflich trennen, aber was das Schicksal von Weimar angeht, da kann man auf Versailles nicht verzichten. Das ist dafür wichtig. Trotzdem ist es nicht so, dass es tödlich gewesen wäre. Also es ist nicht so, dass Versailles der einzige Grund ist, warum die Weimarer Republik gescheitert ist. Aber es ist ein sehr wichtiger Grund, nicht der einzige, auf keinen Fall.
Professor Philipp Austermann
Diese Pariser Vorortverträge waren natürlich für Zentraleuropa, also vor allem für Deutschland, für dieses doch sehr wichtige, große, mächtige, industriell starke Land natürlich eine extreme Belastung. Ich habe allerdings ein Problem damit zu sagen, dass das, und damit möchte ich meine Aussage auch unterstreichen, dass dies für Europa tödlich gewesen wäre. Denn wenn wir mal schauen, wir hatten ja in den zwanziger Jahren, jetzt allein mal auf Deutschland bezogen, oder auf Frankreich bezogen, und Großbritannien, durchaus auch einen Verständigungsweg. Also es hat zum Beispiel diese berühmten Gespräche gegeben mit dem deutschen Außenminister Gustav Stresemann und dem französischen Kollegen Aristide Briand. Es hat diese Konferenzen gegeben und man hat sich sogar in 1932 in Lausanne darauf geeinigt, die Reparation ganz fallen zu lassen. Oder nehmen wir mal diverse Staaten in Osteuropa, die eigentlich gar nicht vom Vertrag direkt betroffen waren, die aber doch eine rechts-radikale, faschistische Richtung eingeschlagen haben. Versailles ist auf jeden Fall nicht hilfreich gewesen, aber es war nicht der ausschlaggebende Punkt, der Europa ermordet hätte. Überhaupt nicht, sehe ich nicht.
Und dann kommt natürlich noch mein spezieller Freund Hindenburg dazu mit seiner verheerenden Reichstagsauflösung. Übrigens ein Mann, nach dem heute noch Straßen benannt sind in Deutschland. Das ist eine Person, da würde ich sagen, der gehört auf alle Fälle weg vom Schild. Also wenn wir schon mal anfangen, Straßen umzubenennen, es ist immer so eine Frage, soll man das machen, soll man das lassen, aber der Hindenburg, der hat überhaupt nichts im demokratischen Staat verloren. Der Mann war Antidemokrat, er hat Hitler ernannt, er hat vorher schon in den dreißiger Jahren verheerende Entscheidungen getroffen. Und man soll sich nicht täuschen, er war bis zum Ende geistig völlig klar. Er wusste ganz genau, was er tut.
. . . Es gibt z.B., wenn Sie nach Sylt fahren, einen Bahndamm, den Hindenburgdamm, weil der Herr diesen 1927 eröffnet hat. Den könnte man umbenennen und einen Namen von Demokraten nehmen, die bisher im deutschen Gedächtnis relativ wenig Bedeutung haben, zum Beispiel unser Freund Matthias Erzberger.
(pdb. Otto Braun; pa. Hermann Müller, Fritz Elsas).
Professor Philipp Austermann
Der Vergleich hinkt nicht nur, sondern er ist völlig daneben. Die EU ist ein Bündnis, ein Staatenbund zwischen gleichberechtigten Partnern mit einem bestimmten Ziel, das in die Zukunft gerichtet ist. Der Vertrag von Versailles wurde nicht zwischen gleichberechtigten Partnern geschlossen, weil ein Teil der Vertragsparteien keinerlei Einfluss auf den Inhalt hatte. Zum anderen war er weniger in die Zukunft gerichtet, sondern vor allem darauf gerichtet, die Folgen der Vergangenheit aufzuarbeiten. Der Vergleich hinkt.
Wenn man schaut, wie beides entstanden ist, und welche Intention damit verbunden war, dann verbietet es sich völlig, das zu vergleichen. Ich schätze Timothy Garton Ash sehr, aber das geht daneben.
Professor Philipp Austermann
Ich glaube nicht. Das Problem ist, dass wir zwei unterschiedliche Arten von Debatte haben. Auf der einen Seite haben wir die amerikanische Debatte, die sich nicht sosehr auf den Kolonialismus bezieht, sondern auf die Sklaverei. Wir haben auf der anderen Seite die europäische Debatte, die sich stark auf die Sklaverei, aber vor allem auch auf andere Gründe des Kolonialismus bezieht. Bei uns ist die Debatte eine ganz andere, wobei sie auch in Deutschland das Thema Sklaverei ganz anders verhandeln müssten. Dazu gibt es zu Deutschland fast keine Beziehung. Es gab keinen wirklichen Sklavenhandel mit Deutschen bzw. durch Deutsche. Das ist eine ganz andere Debatte. Wir [Deutsche, pdb.] sind nicht sosehr im Fokus dieser Debatte, auch wenn man sich natürlich über Beutekunst Gedanken machen kann. Dieses Problem betrifft vor allem andere Staaten.
Professor Philipp Austermann
Der vierte, der 1928 gewählt worden war und 1930 aufgelöst wurde. Den hätte ich auf alle Fälle noch zwei Jahre weitermachen lassen. Dann wäre die NSDAP im September 1930 nicht so stark geworden. Sie wäre möglicherweise 1932 stark geworden. Der wichtigste Sargnagel für die Weimarer Republik ist die Tatsache, dass man neu gewählt hat und die Nazis dann soviel Stimmen im Reichstag hatten. Dadurch konnten sie sich ganz anders präsentieren. Es hatte eine ganz andere Wucht innerhalb der öffentlichen Debatte, als wenn sie nur mit zwei-drei Prozent vertreten gewesen wären. Reichspräsident Paul von Hindenburg hätte auch Hermann Müller das Recht zur Notverordnung zur Verfügung stellen können. Er hätte sagen können: "Ich stütze deine Regierung jetzt zwei Jahre lang." Das wäre eine andere Politik gewesen, meine ich, als das, was wir dann gesehen haben: Präsidialkabinette ab 1930 unter der Leitung von Heinrich Brüning (Zentrumspartei).
Der Müller ist interessanterweise gar nicht mehr alt geworden. Es gibt in der Weimarer Geschichte mehrere Politiker, die körperlich durch ihre Tätigkeit so erschöpft gewesen sind, dass sie früher gestorben sind. Das ist etwas, was mir auffällt.
Ergänzung Aufa100: Ein paar Monate nach dem Tod des physisch erschöpften Gustav Stresemann (siehe Aufa100 Gründungsmanifest) wurde Müller lebensbedrohlich krank. Er starb am 20. März 1931.
Das Interview fand am 23. August 2021 auf unserer Whereby-Plattform statt. Es transkribierten Veronica Burgstaller (UK) und Peter de Bourgraaf (NL).
Hier finden Sie unseren Mai-August-Beitrag zum Jahrhundertgedenken der Ermordung des Demokraten und Friedenspolitikers Matthias Erzberger, der sprachlich für eine europäische Leserschaft ausgelegt wurde. Wollen Sie unsere transeuropäische Aufarbeitungsinitiative unterstützen?