Inflation von Deutschlands Schuldkult
Am 30. März 2023 erschien in der Wochenzeitschrift „Der Freitag“ ein Artikel mit dem Titel: „1923 toxische Papiere“. Aus Sicht von Aufa100 kann dem Historiker Rudolf Walther mit diesem Text eine sehr vereinfachte Darstellung und Interpretation des Ausgangs zum Ersten Weltkrieg attestiert werden.
Dem Rahmen der Ereignisse, in welche die Prozesse um die Verschuldung und Hyperinflation in Deutschland vom Schweizer Autor eingebunden wurden, fehlen allerdings Zusammenhänge übergeordneter Bedeutung. So schrieb er, dass im Herbst 1918 „der Waffenstillstand mit Frankreich ausgehandelt“ wurde. Dies schließt an eine weitverbreitete Sichtweise an, nach welcher dem Vereinigten Königreich, 🇫🇷s Entente-Partner, wohl nicht viel mehr als eine zweitrangige Bedeutung zuzuschreiben sei. Die Historie zum Ende des Weltkrieges 1914 – 1919 zeigt jedoch nach Wort und Bild auf, dass der Armistice zwischen einem unterlegenen Deutschen Reich und der Entente unter der Führung Großbritanniens abgeschlossen wurde. Vor der Weltbühne gelang es aber dem französischen Gastgeber der Friedenskonferenz 1919, die Rolle des Hauptakteurs darzustellen. Eine ähnliche Entwicklung geschah fast 85 Jahre später, als der angloamerikanische Kriegskurs zum Irak von Deutschlands Regierung unter Gerhard Schröder vehement kritisiert wurde. Dem Beispiel wurde von Paris gefolgt. In die Geschichte ist eingegangen, dass sich die französische Regierung als Motor dessen profilierte. Wie vor etwas mehr als 💯 Jahren spielten dabei die Medien in vielerlei Hinsicht eine tragische Rolle.
Auch in den Beziehungen zu den militärisch unerläßlichen Juniorpartner seit dem dritten Kriegsjahr (1917), den Vereinigten Staaten unter Führung der Galionsfigur Woodrow Wilson, ließen sich Britannien und seine einseitig nach Paris geladenen Kolonisten die Vormachtstellung nicht nehmen. Vor alle geteilten Interessen von Krieg und Frieden stellten die Vertreter dreier Dominions (Kolonien) der südlichen Halbkugel ihre kriegsbedingten Unabhängigkeitsansprüche. Aus der vorbildlichen Wirkung der U.S.–Demokratie ergab sich im Endeffekt der Ausstieg aus dem imperialistisch gekaperten Vertrag und „Bund von Versailles“ (🇺🇸–Senatsbeschlüsse 19. November 1919 und 19. März 1920).
Von Anfang an hat sich unsere Aufarbeitungsinitiative dem Ziel gesetzt, eine weitverbreitete Amnesie zu den Ereignissen im fünften und letzten Jahr des Ersten Weltkrieges bzw. seinen Auswirkungen offenzulegen. Während des neulich begangenen Jahrhundertgedenkens blieb sie im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten in ganz Europa aufrecht. Im Europa der Jahre 2018-2019, das vom langwierigen Brexi-Chaos in Mitleidenschaft gezogen wurde, war in den ehemaligen Konfliktstaaten – oder auch im neutralen Lager – wenig bis überschaubare Erinnerung und Aufarbeitung an diese Zeit zu erkennen. Davon können aber vor allem die US–Amerikaner ausgenommen werden. Am 28. Juni 2019 veranstalteten sie in Versailles eine große Gedenkfeier mit Bildungsprogramm als den vorläufigen Höhepunkt ihrer Erinnerungsbestrebungen. Dafür hätte irgendwer des europäischen Zuhauses nicht mal eine überseeische Reise antreten müssen. Bis zum späten Herbst 2019 sollten weitere Exponaten der US-amerikanischen Erinnerungskultur öffentlich zur Verfügung gestellt werden. Weitere anderthalb Jahre später wurde in der Hauptstadt Washington das nationale Denkmal enthüllt.
Eine weitere Darstellung Rudolf Walthers sollte angepasst werden. So als traten beispielsweise nicht alle Teilnehmerstaaten der Pariser Konferenz physisch und praktisch hinter die wohlgemerkt beiden Delegationen unter dem Union Jack zurück. Die britische „Doppeldelegation“ legte ein überragendes Gewicht in die Waagschale. Gegenüber dem Einfluss dieser „Britischen Reichsdelegation“ (British Imperial Delegation) zum Beispiel verblasste jener des schwer getroffenen Frontstaates Belgien. Somit liegt nicht in Paris, sondern in London und dem Empire, die Wurzel des tödlichen Diktats an Weimar (u.a. Karlheinz Lüdeking, Peter de Bourgraaf, siehe Gründungsmanifest). Den neuen Russen würden die harten Vertragsbedingungen des Deutschen Reiches nicht das Ende bedeuten.
Das deutsche Tabu zum Ausgang dieses Weltkrieges hat sich in einem zweiten Jahrhundert nach den Ereignissen weitgehend behauptet. Dies ist insbesondere im Licht des heutigen Krieges als tragisch anzumerken. Zu dessen Verständnis kommt der Geschichte nationalsozialistischer Eroberungen und Verbrechen (1939 – 1945) weniger Bedeutung zu als der der „ersten Nachkriegsordnung“. Verständnis liegt offenkundig an der Basis gegenseitig hinnehmbarer Konfliktlösungen.
Auch in einer dritten Darstellung des Artikels sollte der Leser stutzig werden, wenn behauptet wird, dass der Vertrag von Brest – Litovsk in „Brutalität“ den späteren „Westvertrag“ übertreffe. Zum einen wurde das neue Russland nicht von einem „überlegenen“ Gegner vertraglich aus der Welt gebannt, wie es in einem totalitär anmutenden Stil den ebenfalls revolutionierenden Deutschen im Winter 1919 durch mehrere britisch-britische Verbannungsakte zuteil wurde. Zum anderen war zunächst keiner der französischen Gastgeber dafür verantwortlich, dass das Kolonialreich Deutschlands heimlich und im Widerspruch zum Waffenstillstandsaufkommen aufgelöst wurde. Es ist der ursächlichen Doppeldelegation unter der Leitung von David Lloyd George und dessen Kolonialheld Jan Christiaan Smuts in einem erfolgreichen Propagandakrieg gelungen, aus der Verantwortung für diesen Gewaltakt genommen zu werden. Nach dem freien Publizisten des Artikels „1923“ traf die Deutschen ein einziger Schuldparagraph, eine Geschichtsdarstellung, welcher förmlich nichts entgegenzuhalten ist. Dies geht jedoch daran vorbei, dass die britische Argumentationslinie zum Konzeptvertrag auslösenden Kolonialparagraphen dauerhaft Volk und Nation des entsprechend aufgelösten Mutterlandes stigmatisieren würde. Zur bekannten „Kriegsschuldlüge“ kam es einige Monate nach diesem Vorgang im Januar und Februar. Die sogenannte Kolonialschuldlüge ging der Schuldzuweisung der ersten Sommerwoche 1919 voran. Zum Dritten ist eine eins-zu-eins Konstellation wie der Ostvertrag 1918 aus Sicht der unterlegenen Partei etwas grundlegend anderes als das Diktat eines britisch geführten Bündnisses von insgesamt dreißig ratifizierenden Versailles-Urheberkolonien (fünf) und -staaten.
Zu guter Letzt scheint es fraglich, dass die sich häufenden Demütigungen damals mehrheitlich als „symbolische Natur“ hingenommen wurden. Aus der historischen Amnesie, ja Demenz, eines ansatzweise dekolonisierten Europa erklärt sich, dass bestimmte Fakten nicht gern hingenommen werden. Daher fiel es auf unserem Kontinent fast niemandem auf, dass diese von der United States World War One Centennial Commission in einem passenden und ordentlichen Rahmen aufgegriffen wurden.
Peter de Bourgraaf
Wir danken Theo Mayer für den ebenso ehrenamtlich geleisteten Dienst einer Übersetzung ins 🇬🇧.